Es
ist sehr still geworden um Abdullah Öcalan, den früheren Vorsitzenden der
Kurdischen Arbeiter-Partei (PKK). Vor fünf Jahren war er unter mysteriösen
Umständen in Afrika gekidnappt worden, er wurde von einem türkischen
Sondergericht zum Tode verurteilt, auf Druck des Europarats zu lebenslanger
Haft "begnadigt" und wird seit dieser Zeit in einem türkischen
Hochsicherheitsgefängnis gefangen gehalten.
Im Folgenden dokumentieren wir einen Beitrag, den Rolf Gössner als Beobachter
des Öcalan-Revisionsverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte in Straßburg am 9. Juni 2004 für die Zweiwochenschrift
"Ossietzky" verfasst hat.
Von Rolf Gössner*
"The Court", ruft der Saaldiener, und alle erheben sich. 17 Gestalten
in schwarzen Roben mit weißen Rüschenlätzchen betreten den Saal, bewegen sich
im Gänsemarsch langsam auf ihre Plätze zu. Es sind die Richterinnen und Richter
der großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg
- der höchsten gerichtlichen Instanz auf dem europäischen Kontinent. Vor dem
Richter-Halbrund sitzen die Anwälte des Klägers, in gehörigem Abstand die des
beklagten Staates, der Türkei.
Es fehlt die Hauptperson, deren Revisionssache verhandelt wird: Der Platz des
Kurdenführers Abdullah Öcalan bleibt unbesetzt. Hafturlaub hat er nicht
erhalten, um seine Sache persönlich vertreten zu können. Und per Videoschaltung
kann er sich dem Gericht auch nicht erklären. Doch durch seine Anwälte ist er
gut vertreten. Im Saal sitzen Pressevertreter und Prozeßbeobachter aus vielen
Ländern, eingeladen von einer Internationalen Initiative.
Auf dem juristischen Prüfstand steht das Staatsschutzverfahren gegen den
früheren Vorsitzenden der Kurdischen Arbeiter-Partei (PKK), das Ende der 90er
Jahre vor einem Sondergericht in der Türkei stattgefunden hat. Bereits im
Beschwerdeverfahren hatte die kleine Kammer des Europäischen Gerichtshofs in
ihrem Urteil vom 13. März 2003 festgestellt, daß Öcalan kein fairer Prozeß vor
einem unabhängigen Gericht gemacht wurde. Sein Recht auf Verteidigung sei
eingeschränkt worden, und durch die Verhängung der Todesstrafe habe er eine
inhumane Behandlung erlitten. Inzwischen wurde die Todesstrafe auf Druck des
Europarates und der EU in lebenslange Haft umgewandelt und in der Türkei per
Gesetz abgeschafft, ebenso wie die berüchtigten Staatssicherheitsgerichte.
Der Europäische Gerichtshof hatte es allerdings unterlassen, zwei für die
menschenrechtliche Beurteilung des türkischen Strafverfahrens wesentliche
Sachverhalte zu klären und zu ahnden: Weder die dubiosen Umstände der
geheimdienstlichen Entführung Öcalans am 15. Februar 1999 aus Kenia in die
Türkei noch das Haftregime der Isolation, dem er seit seiner Inhaftierung
unterzogen wird, waren erörtert worden - obwohl diese Behandlung des Gefangenen
Einfluß auf das Strafverfahren hatte und es sich dabei mutmaßlich um schwere
Verstöße gegen das Völkerrecht und das Folterverbot der
Menschenrechtskonvention handelt. Nach seiner Festnahme war Öcalan sieben Tage
lang ohne jeden Kontakt zu seinen Anwälten festgehalten worden. Weil diese
Umstände nicht aufgeklärt worden waren, hatte die Verteidigung Öcalans - ebenso
wie die Türkei aus anderen Gründen - Revision gegen das Urteil eingelegt.
Öcalan erhofft sich nun eine verschärfte Verurteilung des türkischen Staates,
während dieser sich reinzuwaschen sucht. Die englischen und kurdischen Anwälte
Öcalans tragen die Begründung für ihre Revision vor, die Anwälte der Türkei
versuchen, die aufgezeigten Menschenrechtsverletzungen als notwendige
Antiterrormaßnahmen zu rechtfertigen. Das Gericht rafft sich kaum zu kritischen
Nachfragen auf. Seine Entscheidung wird noch Monate auf sich warten lassen.
Sollte es die Türkei in wesentlichen Punkten verurteilen, dann müßte der Prozeß
gegen Öcalan vor einem türkischen Gericht neu aufgerollt und rechtsstaatlich
korrekt durchgeführt werden. Die Türkei will das natürlich vermeiden. Und
Öcalan wäre es lieber, wenn ein neuer Prozeß außerhalb des Landes stattfände -
nämlich vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Dann endlich
könnte der ursächliche Part der Türkei an dem kriegerisch ausgetragenen Kurdistan-Konflikt
angemessen berücksichtigt werden - also jene grausame Unterdrückung der Kurden,
gegen die sich die Kurdische Arbeiterpartei, für die Öcalan verantwortlich war,
mit Gewalt zur Wehr gesetzt hat. Das würde seine Straftaten, seine
Verantwortung in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Draußen vor dem Straßburger Gerichtsgebäude ist an diesem heißen Junitag
erheblich mehr los als im Gerichtsaal. Hier versammeln sich bunt gekleidete
Kurdinnen und Kurden, schwenken Fahnen und lassen Abdullah Öcalan hochleben.
Zehntausend Menschen demonstrieren für seine Freiheit und für eine gerechte und
demokratische Lösung des Kurdistankonflikts. Die Türkei ist vom Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte bereits in zahlreichen Verfahren für
schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, insbesondere systematische
Folterungen, verurteilt worden, teilweise auch zu hohen
Schadensersatzleistungen an die Opfer. Trotz einiger Reformansätze wird in der
Türkei nach wie vor massiv gegen Menschenrechte und rechtsstaatliche Standards
verstoßen. Die größten Defizite, so stellt der letzte vertrauliche Lagebericht
des Berliner Auswärtigen Amtes fest, liegen bei den Institutionen von Justiz
und Polizei. Zwar gingen die Hinweise auf Fälle schwerer körperlicher Folter
zurück, dafür nähmen Berichte über verfeinerte Methoden zu, die weniger
bleibende Spuren hinterlassen - etwa Elektroschocks, Abspritzen mit kaltem
Wasser aus Hochdruckgeräten, erzwungenes Ausziehen sowie Androhung von
Vergewaltigungen.
Abdullah Öcalan wird seit nunmehr über fünf Jahren als einziger Gefangener auf
der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer gefangen gehalten, also von der
Außenwelt weitgehend isoliert, unter menschenunwürdigen Haftbedingungen. Außer
mit seinen Bewachern kann er mit niemandem sprechen. Oft bleibt er monatelang
ohne Besuch, weil die türkischen Sicherheitsbehörden immer wieder den Anwälten
und Verwandten die Überfahrt durch das militärische Sperrgebiet mit Verweis auf
defekte Boote oder schlechtes Wetter verweigern. Die verschärften Isolationshaftbedingungen
bedrohen ernsthaft seine Gesundheit. Er leidet in den feuchten Gemäuern, wie
seine Anwälte berichten, unter Atembeschwerden. Die hygienischen Bedingungen
seien mangelhaft. Eine unabhängige Ärztekommission, so die Forderung der
Anwälte und Verwandten, müsse Öcalan untersuchen und geeignete medizinische
Maßnahmen ergreifen. In der Tat ist Eile geboten, sollen diese Haftbedingungen
nicht zu einer Hinrichtung auf Raten führen.
Just am Tag des Revisionsverfahrens im Fall Öcalan wird in der Türkei die seit
zehn Jahren inhaftierte kurdische Parlamentarierin Leyla Zana zusammen mit drei
weiteren ehemaligen Abgeordneten überraschend freigelassen - nicht gerade aus
freien Stücken, sondern um eine wichtige Forderung der EU zu erfüllen. Ob mit
dieser Freilassung einer weithin bekannten Symbolfigur des kurdischen
Widerstands eine neue Ära in der Türkei angebrochen ist, bleibt abzuwarten.
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für Frieden im Lande und für eine
Verbesserung der Menschenrechtslage wird die politisch gerechte Lösung des
Kurdistankonflikts sein. Dieses Problem ist nach wie vor ungelöst, solange
Kurden unterdrückt und ihnen kulturelle, soziale und politische Rechte
vorenthalten werden.
* Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, ist Präsident der
"Internationalen Liga für Menschenrechte" (Berlin). Er hat den
Öcalan-Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg auf Einladung der
Internationalen Initiative "Freedom for Ocalan - Peace in Kurdistan"
und im Auftrag der Liga beobachtet. Er ist Mitherausgeber der Zweiwochenschrift
"Ossietzky" und Autor zahlreicher Sachbücher zu Bürgerrechtsthemen,
zuletzt: "Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle
im Dienst des Staates" (Knaur-Verlag, München 2003). Internet: www.rolf-goessner.de
Aus: "OSSIETZKY" Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft
(Hannover/Berlin), 13/2004
(www.sopos.org/ossietzky.de oder www.linksnet.de)