„FREITAG“ v. 19.08.2005

 

 

Rolf Gössner

Um den Überwachungsstaat
verdient gemacht

 

SIEBEN MAGERE JAHRE FüR DIE BüRGERRECHTE*
Rot-Grün und der ganz normale Ausnahmezustand

Das Misstrauensvotum gegen Kanzler Schröder kam eigentlich zu spät. Einen wirklichen Sinn ergeben hätte ein solcher Schritt vor der deutschen Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien oder wegen Hartz IV oder nicht zuletzt wegen der "Antiterrorgesetze". Dabei hatten doch im Herbst 1998 die angehenden Koalitionäre vollmundig eine neue Bürgerrechtspolitik versprochen. Besonders die Bündnisgrünen empfahlen sich als Bürgerrechtspartei, die nach 16 Jahren Kohl & Kanther den Bürgerrechten endlich wieder zum Durchbruch verhelfen wollte.

Doch anders als von vielen erhofft, kam es schon mit dem Koalitionsvertrag zu keinem wirklichen Umdenken und Umsteuern in der Innenpolitik. Zu keiner Zeit sah sich die prekäre Hinterlassenschaft der schwarz-gelben Vorgänger wirklich zur Disposition gestellt. Mit Ausnahme der Kronzeugen-Regelung wurde kein einziges noch so bürgerrechtsschädliches Repressionsinstrument revidiert. Auf eine wirklich liberalere Kriminalpolitik hoffte man ebenso vergeblich wie auf eine demokratische Polizeireform oder ein humanes Asyl- und Ausländerrecht. Unter Rot-Grün gab es keinen Ausstieg aus dem autoritär-präventiven Sicherheitsstaat - im Gegenteil.

Schon bei Halbzeit dieser Regierung war klar: die erhoffte Wende in Sachen Bürgerrechte unterblieb - abgesehen von respektablen Ausnahmen wie der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts oder dem überfälligen Zuwanderungsgesetz. Doch selbst da sind die Erwartungen kaum erfüllt worden: Das Staatsbürgerrecht ist nur recht eingeschränkt reformiert worden, und das neue Zuwanderungsgesetz verdient seinen Namen nicht - es müsste Zuwanderungsbegrenzungsgesetz heißen, wie die Praxis zeigt. Auch andere rot-grüne Aktivposten haben einen entscheidenden Haken: Sowohl das Informationsfreiheitsgesetz als auch das Antidiskriminierungsgesetz sind zu spät auf den parlamentarischen Weg gebracht worden, so dass letzteres gar dem vorzeitigen Ende von Rot-Grün zum Opfer fallen dürfte. Zwei andere Großprojekte hatten hingegen durchschlagende Wirkung: Das NPD-Verbotsverfahren und die "Antiterror"-Gesetzespakete.

Erinnern wir uns, im Herbst 2000 hatten Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat im Sinne des "Aufstands der Anständigen" einen politisch unverantwortlichen Antrag auf Verbot der rechtsextremen NPD gestellt. Unverantwortlich deshalb, weil vor allem die Regierung diesen Antrag ungeachtet einer Unterwanderung der NPD durch V-Leute auf den Weg brachte. Schließlich war der Verfassungsschutz seit langem über ein Netz von bezahlten V-Leuten in die NPD und ihre rassistisch-kriminellen Machenschaften verstrickt. Etwa 30 der 200 Vorstandsmitglieder standen zuletzt als V-Leute im Sold des Geheimdienstes - allein diese Zahl an staatlich bezahlten Neonazis dürfte prägenden Einfluss auf die NPD gehabt haben. Der eigentliche Skandal bestand darin, dass die Exekutive diese Infiltration gegenüber den Verfassungsrichtern vertuschen wollte, obwohl wesentliche Teile des Verbotsantrags gerade auf den Zeugenaussagen dubioser V-Leute basierten, die dem Quellenschutz unterlagen. Das hätte ein rechtsstaatlich-faires Verbotsverfahren letztlich verhindert und zu einem verfassungswidrigen Geheimprozess geführt. Deshalb war es nur konsequent, dass das Bundesverfassungsgericht dieses geheimdienstlich verseuchte Verfahren im März 2003 einstellte.

Nach dem 11. September 2001 war es besonders Innenminister Schily, der mit seinem "Antiterror"-Aktionismus selbst die Hardliner von CDU/CSU verblüffte. Er werde "alle polizeilichen und militärischen Mittel aufbieten, über die die freiheitlich-demokratische Staatsordnung ... verfügt" - mit dieser martialischen Ankündigung trug Schily der damaligen Stimmungslage Rechnung, ließ langgehegte Pläne aus den Schubladen der Macht kramen, zu voluminösen "Otto-Katalogen" schnüren und mit Antiterror-Etiketten bekleben.

Selbstverständlich gehört es zu den Aufgaben von Regierung und Sicherheitsbehörden, die Mittäter und Hintermänner von Anschlägen zu ermitteln und mit geeigneten, aber auch angemessenen Maßnahmen für die Sicherheit der Bürger zu sorgen. Die rot-grüne Bundesregierung jedoch tat weit mehr: Sie unterhöhlte verfassungsrechtlich verbriefte Grundrechte, obwohl es gerade in einer solch prekären Lage der Unsicherheit und Angst, wie sie nach dem 11. September 2001 zu spüren waren, Pflicht einer souveränen Exekutive gewesen wäre, Realitätssinn und Augenmaß zu bewahren, statt dem Ruf nach dem "starken Staat" mit weitgehend symbolischer Politik zu folgen. Anstatt der Bevölkerung die Wahrheit über Unsicherheitsfaktoren in einer Risikogesellschaft zuzumuten, wurden ihr unhaltbare Sicherheitsversprechen gemacht. Man bediente das Sicherheitsbedürfnis der Bürger und nutzte es, um (zumeist) längst geplante staatliche Nachrüstungsmaßnahmen zu legitimieren.

Es war eine rot-grüne Regierung, die mit den Antiterror-Paketen die umfangreichsten "Sicherheitsgesetze" zu verantworten hatte, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet worden sind - ohne auch nur die Frage zu stellen, ob nicht die bereits geltenden Gesetze ausreichen, um die Gefahren einzudämmen. Es existierte längst ein ausdifferenziertes System von Antiterror-Regelungen mit Sonderbefugnissen für Polizei, Justiz und Geheimdienste - es gab verdeckte Ermittler, die Raster- und Schleppnetzfahndung, die verdachtsunabhängige "Schleierfahndungen" sowie eine Fülle von Abhör- und Kontrollmöglichkeiten. Mit den neuen Antiterror-Gesetzen wurde draufgesattelt und ein fataler Trend bedient: die weitere Erhöhung der Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft - im Namen der Sicherheit und auf Kosten der Freiheitsrechte, sozusagen für den ganz normalen Ausnahmezustand.

Nur wenige Beispiele aus der Fülle neuer Befugnisse, die 2002 und später in Kraft getreten sind: Zwar gehörten Migranten schon zuvor zu der am intensivsten überwachten Bevölkerungsgruppe, nun aber standen sie per Antiterror-Gesetz unter Generalverdacht und sahen sich einer noch rigideren Überwachung unterworfen. Ohne konkreten Anlass war es fortan möglich, in Ermittlungen zu geraten, die existenzielle Folgen haben konnten. Migranten - unter ihnen besonders Muslime, vielfach als "Islamisten" stigmatisiert und zu innenpolitischen Feinden gestempelt - waren die Hauptleidtragenden ausufernder Rasterfahndungen. Doch kein einziger "Schläfer" konnte mit dieser hochgelobten elektronischen Abgleichsmethode anhand unauffälliger Suchkriterien entdeckt werden.

Ausgerechnet die Geheimdienste, deren Versagen am 11. September 2001 offenkundig wurde, erlebten nach den Terroranschlägen einen wahren Boom. Sie wurden aufgerüstet und erhielten neue Befugnisse, die tief in die Grundrechte eingreifen. So dürfen sie inzwischen mit so genannten IMSI-Catchern Handys orten, womit sich Bewegungsprofile ihrer Besitzer erstellen lassen, auch wenn die Geräte nur stand by geschaltet sind. Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst dürfen darüber hinaus von Banken, Post, Telekommunikationsanbietern und Fluglinien Auskünfte verlangen über Geldanlagen, Konten, Reisen oder andere Daten ihrer Kunden. Mit dem Automatisierten Kontenabrufverfahren kann die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zur Bekämpfung des Terrorismus und der Geldwäsche heimlich Kontostammdaten (Name, Geburtsdatum, Anschrift des Inhabers, Verfügungsberechtigungen) bei allen Kreditinstituten abrufen. Alle 2.200 Geldinstitute müssen über eine Computer-Schnittstelle jederzeit derartige Informationen über sämtliche Konten und Depots (noch nicht über die Inhalte) von allen Kunden zum Abruf bereithalten, ohne dass diese oder die Banken selbst von den Online-Abfragen etwas bemerken. Niemand weiß genau, was mit den Daten später geschieht.

Künftig werden biometrische Daten wie digitale Gesichtsbilder und Fingerabdrücke in die Ausweispapiere aufgenommen. Beide Merkmale sollen auf Chips gespeichert werden; die parallele Speicherung in (zunächst) dezentralen Hintergrunddateien würde einen automatischen Abgleich mit den Fingerabdruckdateien von Straftätern und Verdächtigen technisch ebenso möglich machen wie mit Fingerabdrücken, die an Tatorten krimineller Handlungen gefunden werden. Auch die digitalisierten Gesichtsbilder könnten mit Video-Aufnahmen aus dem öffentlichen Raum abgeglichen werden, um eine verdächtige oder gesuchte Person herauszufiltern.

Schließlich erlaubt es der neue § 129b Strafgesetzbuch, dass hierzulande mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer auch ausländischer "terroristischer Vereinigungen" (§ 129a) strafrechtlich verfolgt werden, selbst wenn sie sich in Deutschland völlig legal verhalten - eine Ermächtigung durch das Bundesjustizministerium reicht aus. Ein Novum in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte, mit dem das politische Strafrecht auf die Spitze getrieben und das Ministerium zum Richter über politische Bewegungen im Ausland erhoben wird - und zwar weltweit.

Die meisten Antiterrormaßnahmen folgen einer seit Jahrzehnten forcierten Präventionsstrategie, die mit jedem neuen Überwachungsinstrument immer mehr zur Maßlosigkeit neigt: Die Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, verliert ihre machtbegrenzende Bedeutung - der Bürger mutiert zum potentiellen Sicherheitsrisiko, der seine Harmlosigkeit und Unschuld nachweisen muss; und die "Sicherheit" wird zum Supergrundrecht, das die Grundrechte der Bürger als Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates in den Schatten zu stellen droht.

Längst ist von Otto Schily ein neues "Sicherheitspaket" geschnürt worden, und auch die CDU/CSU rüstet auf. Dabei geht es nicht mehr nur um Einzelmaßnahmen wie die abermalige Verschärfung des Ausländerrechts, noch mehr Videoüberwachung im öffentlichen Raum, die geheimdienstliche Beobachtung und Infiltration von Moscheen, die langfristige Speicherung von Telefon- und Internetdaten sowie die präventive Sicherungshaft für "gefährliche Personen". Inzwischen steht die Umkrempelung der gesamten "Sicherheitsarchitektur" und die Entkernung des demokratischen Rechtsstaats auf der Agenda.

Drei Tabubrüche sind absehbar: die Militarisierung der Inneren Sicherheit durch den erleichterten Einsatz der Bundeswehr im Inneren, der bereits möglich ist - etwa über Notstandsgesetze (1968) und Verteidigungspolitische Richtlinien. Dazu gehört auch die bereits gesetzlich geregelte Möglichkeit zum präventiven Abschuss gekaperter Passagierflugzeuge, um Anschläge aus der Luft zu verhindern - eine staatliche Lizenz zum gezielten Töten, würden doch im Falle eines solchen Abschusses auf Befehl des Verteidigungsministers mit Sicherheit Hunderte vollkommen unschuldiger Passagiere sterben.

Der zweite Tabubruch besteht in der Zentralisierung der Sicherheitsbehörden, allen voran der Polizei und des Verfassungsschutzes, obwohl diese nach dem Föderalprinzip grundsätzlich Ländersache sind - und der dritte in einer verstärkten Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten mit dem Ziel eines intensivierten Datenaustauschs (gemeinsame Lagezentren zur Terrorismusabwehr, zentrale "Islamisten"-Datei, europaweite Datenvernetzung ohne eine funktionierende demokratische Kontrolle).

Eine solche Verzahnung würde das verfassungsmäßige Gebot der Trennung von Polizei und Geheimdiensten unterlaufen - jener bedeutsamen Lehre, die ursprünglich aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo in der Nazizeit gezogen worden war. Doch lange schon wächst hier zusammen, was nicht zusammen gehört. Am Ende wird sich wohl alles in einer mächtigen Vereinigten Sicherheitsagentur zusammenfinden. Zur Erinnerung: Mit dem Trennungsgebot sollte ursprünglich verhindert werden, dass sich die Macht der Sicherheitsbehörden in einem zentralen Apparat konzentriert und sich so demokratischer Kontrolle entzieht.

Etliche der jetzt schon gültigen rot-grünen Antiterror-Maßnahmen zeigen Merkmale eines autoritären Präventionsstaates, der einen Überwachungsstaat heraufbeschwört, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen verloren gehen. Die meisten der Befugniserweiterungen sind wenig geeignet zur Bekämpfung eines religiös aufgeladenen, selbstmörderischen Terrors; sie schaffen kaum mehr Sicherheit, gefährden aber die Freiheitsrechte umso mehr. An dieser Entwicklung konnte auch die vom grünen Koalitionspartner durchgesetzte Evaluation und Befristung bestimmter Antiterror-Gesetze nichts ändern - zumal das Bundesinnenministerium selbst evaluiert und in seinem Bericht vom Mai 2005 erwartungsgemäß resümiert: Die Sicherheitsbehörden nutzten die neuen Befugnisse "erfolgreich, zurückhaltend und verantwortungsvoll". Die Gesetze hätten sich bewährt und müssten in Kraft bleiben - ja, es müsse unbedingt noch nachgelegt und ein drittes Sicherheitspaket geschnürt werden. Bei Gericht würde man wohl von einem Gefälligkeitsgutachten sprechen.

"Der Erfolg des rot-grünen Projektes wird nicht zuletzt entscheidend davon abhängen, ob diese Gesellschaft und dieser Staat im Verlaufe der anstehenden Regierungsperiode ein Stück menschlicher, demokratischer, sozialer und bürgerrechtsverträglicher geworden sein wird", hieß es in einem Memorandum in Sachen Menschen- und Bürgerrechte, das acht Bürgerrechtsorganisationen unter dem Titel Umdenken und Umsteuern in der Politik der "Inneren Sicherheit" - Zumutungen an eine rot-grüne Bundesregierung* im Herbst 1998 an die Koalitionäre gerichtet hatten. Zwischenzeitlich haben wir zwar die eingetragene Lebenspartnerschaft, einen verbesserten Opferschutz, das reformierte Staatsbürgerschaftsrecht, ein Einwanderungs- und Informationsfreiheitsgesetz als Positivposten zu verzeichnen - doch als struktureller Negativposten stellt sich ein Sicherheitsstaat dar, der in dem Maße aufgerüstet worden ist, wie der Sozialstaat abgetakelt wurde.

·        Der Autor war Verfasser dieses Memorandums/s. FR, 14. 10. 1998

 

 

 

Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Bundes und der Länder. Bis 2001 Berater von Bündnis 90/Die Grünen im niedersächsischen Landtag. Seit 2003 Präsident der "Internationalen Liga für Menschenrechte"/ Eine Langversion des Textes findet sich im gerade erschienenen SCHWARZBUCH ROT-GRÜN von Joachim Bischoff/Wolfram Burkhardt/Uli Cremer/Axel Gerntke/Rolf Gössner/Joachim Rock/Johannes Steffen/Franz Walter. VSA-Verlag. Hamburg.