NEUES DEUTSCHLAND

vom 17.09.2004

 

  Druckausgabe eines Artikels

Brüsseler Spitzen

Bürgerrechte in Terrorzeiten

Von Rolf Gössner 
 
Nicht nur in einzelnen Ländern, auch auf EU-Ebene ist seit dem 11. 9. 2001 ein Antiterror-Aktionismus ausgebrochen, der mitunter bizarre Blüten treibt.

Da beschlossen die EU-Mitgliedstaaten eine gemeinsame Terrorismusdefinition, die auch Formen des zivilen Ungehorsams wie Sitzblockaden vor Atomkraftwerken oder politische Streiks in Versorgungsbetrieben erfassen könnte. Mit dieser Kriminalisierung per Definition macht der »Gegenterror« auch vor sozialem Protest nicht halt, weder vor der Friedensbewegung und dem Anti-Atom-Widerstand noch vor Globalisierungsprotesten.

Da schlossen im Frühjahr 2004 der Rat und die Kommission der EU ein Abkommen mit den USA, in dem festgelegt wird, dass Flugpassagier-Daten aus allen EU-Ländern an USA-Sicherheitsbehörden übermittelt werden müssen. Die beiden EU-Organe setzten sich damit über das ausdrückliche Votum des Europäischen Parlaments hinweg, das deshalb den Europäischen Gerichtshof angerufen hat, um die Annullierung des Paktes zu erreichen. Der Datentransfer verstoße gegen Grundrechte und völkerrechtliche Prinzipien des Datenschutzes. Mit dem Abkommen erhält die USA-Heimatschutzbehörde Direktzugriff auf teils hochsensible Daten aller europäischen Flug-Buchungssysteme. Jährlich sind mehr als 10 Millionen Passagiere, die in die USA fliegen, unmittelbar betroffen. Schon bevor sie auch nur einen Fuß auf den Boden des Landes gesetzt haben, sind die USA-Behörden über sie informiert, haben ihre Daten abgeglichen, Bewegungsbilder und Persönlichkeitsprofile erstellt, schlimmstenfalls Verdächtigungen konstruiert. Auch unbescholtene Fluggäste sind nicht davor gefeit, auf diese Weise zu Opfern rigider Antiterror-Maßnahmen zu werden und sich wie Verbrecher behandeln lassen zu müssen. Kollateralschäden im Antiterrorkampf.

Die Agenda des EU-Aktionsplans zur Terrorismusbekämpfung ist ellenlang. Ganz oben rangiert die Optimierung der polizeilichen und geheimdienstlichen Zusammenarbeit. Gleichrangig wird die Kontrolle der Telekommunikation angestrebt: die Überwachung der weltweiten Kommunikationsströme über Telefon, Handy, Fax, Emails, SMS und Internet –- unabhängig von einem Straftatverdacht oder einer konkreten Gefahr. Alle Internet-Provider und Telefongesellschaften sollen gezwungen werden, den EU-Sicherheitsbehörden Zugang zu allen Verbindungsdaten zu gewährleisten. Diese Daten sollen dann auf der Suche nach Sicherheitsrisiken erfasst und analysiert werden sowie mindestens ein Jahr, höchstens drei Jahre auf Vorrat gespeichert bleiben. Mit diesem Datenfundus könnten ganze Lebensbereiche ausgeforscht werden – schließlich kann etwa die Auswertung von Internet-Verbindungsdaten etwas über Interessen, Vorlieben und politische Präferenzen der Nutzer verraten. Die Europäische Menschenrechtskonvention, die jedem Einzelnen die Meinungsfreiheit, das Post- und Fernmeldegeheimnis sowie den Respekt vor seinem Privatleben garantiert, würde damit praktisch ausgehebelt.

Der Antiterrorkampf beschleunigt die Entwicklung in Richtung einer europäischen »Sicherheitsunion«, deren Außengrenzen gegen Schutzsuchende immer rigider abgesichert werden, in der die expandierende Polizeibehörde Europol keiner demokratischen Kontrolle unterliegt, Polizei und Geheimdienste sich mehr und mehr verzahnen, Migranten biometrisch vermessen, die Einwohner zu gläsernen Menschen werden – während die Euro-Bürokratie immer undurchsichtiger wird. Leider gibt es noch keine kritische europäische Öffentlichkeit, die diesem Treiben das tragfähige Gegenkonzept eines demokratischen, friedlichen, menschenrechtlichen Europas entgegensetzen könnte.

(NEUES DEUTSCHLAND vom 17.09.04)