18.11.2005

Rolf Gössner

Schilys staatsautoritäres Erbe

INNERE SICHERHEIT*Die große Koalition tritt in die Fußstapfen
des abtretenden Innenministers

Bei Koalitionsverhandlungen geht es nicht selten zu wie auf dem Bazar. Gibst du mir dieses, verzichte ich auf jenes - oder umgekehrt. Einen Kuhhandel besonderer Art betrieben die Unterhändler von CDU und SPD, als sie die direkte Demokratie mit der präventiven Sicherungshaft verrechneten. Die Arbeitsgruppe Innenpolitik unter Leitung des designierten Ministers für Inneres, Wolfgang Schäuble (CDU), und für Justiz, Brigitte Zypries (SPD), ist sich handelseinig geworden: Wenn die Union auf ihre Forderung verzichte, die Sicherungshaft für "gefährliche Personen" einzuführen, dann müsse die SPD auf einige ihrer Ideen für mehr direkte Demokratie verzichten.

Was wird hier miteinander verrechnet? Eine vermutlich ohnehin verfassungswidrige Maßnahme aus dem Arsenal von Diktaturen - denn die präventive Sicherungshaft sollte ohne konkreten Verdacht verhängt werden können - mit Maßnahmen, die mehr unmittelbare Demokratie verheißen. So werden Bürgerrechte gegeneinander ausgespielt: der Verzicht auf einen schweren Eingriff in die Grundrechte gegen den Verzicht auf mehr Demokratie. Dass sich die SPD auf diesen faulen Kompromiss überhaupt einlässt, ist nur auf den ersten Blick erstaunlich: Denn obwohl die bundesweite Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden in zwei rot-grünen Koalitionsvereinbarungen versprochen worden war, hatte die SPD dieses grüne Anliegen erfolgreich verdrängt. Jetzt ist es zur Verhandlungsmasse verkommen und erst mal ad acta gelegt.

In einer großen Koalition mit zwei fast gleich starken Partnern regiert meist der kleinste gemeinsame Nenner. Doch in Fragen der inneren Sicherheit und des damit oft verbundenen Grundrechteabbaus ist dieser bei CDU/CSU und SPD gefährlich groß. Schon die erste große Koalition der bundesdeutschen Geschichte Ende der sechziger Jahre zeigte, dass eine solche Machtkonzentration Gesetze und Verfassungsänderungen durchdrücken kann, die mit Wahlen und neuen Mehrheiten praktisch nicht mehr korrigiert werden können. Beispiel: die höchst umstrittenen Notstandsgesetze von 1968, die es heute noch gibt.

Für den großen gemeinsamen Nenner zwischen den Großkoalitionären im Bereich der inneren Sicherheit standen der scheidende Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) und der lange Zeit als sein Nachfolger gehandelte bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU). Schily und Beckstein - das war nicht nur der Schaukampf zweier Männerfreunde um die Hardlinerschaft, nein: Das war die vorweggenommene große Koalition, die es in Sachen "innere Sicherheit" faktisch schon seit den neunziger Jahren gibt. Erinnert sei an die Demontage des Asylgrundrechts, die damals erst mit den Oppositionsstimmen der SPD möglich wurde, ebenso wie der große Lauschangriff, den Otto Schily maßgeblich mitgestaltet hatte und der später für verfassungswidrig erklärt wurde. Rot-Grün setzte das bürgerrechtswidrige Erbe von Kohl und Kanther nicht etwa auf den Prüfstand, sondern kürte ausgerechnet Otto Schily zum Bundesinnenminister, der sich rasch als "rosaroter Kanther" entpuppte. Rot-Grün hat in diesem Bereich bereits Becksteinsche Politik betrieben - worunter viele Grüne enorm gelitten haben. Nicht nur die restriktive Flüchtlingspolitik wurde von der CDU/ CSU grundsätzlich begrüßt, ebenso die rot-grüne "Antiterror"-Politik, die zu einer erheblichen Ausweitung der Aufgaben und Befugnisse von Polizei und Geheimdiensten führte und damit zu einer weiteren Erhöhung der ohnehin hohen Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft.

"Was ich in der inneren Sicherheit durchgesetzt habe, hätte eine Koalition aus Union und FDP nie zustande gebracht." Schilys Eigenlob macht mit Blick auf die große Koalition ziemlich nachdenklich. Was werden die Unterhändler der beiden Volksparteien wohl einem sicherheitsgläubigen Volk zumuten? Kommt jetzt der Einsatz der Bundeswehr im Innern, wie es CDU/CSU nach wie vor verlangen; werden nun hierzulande für den Krieg ausgebildete Soldaten als Hilfspolizisten eingesetzt? Droht die Wiedervereinigung von Polizei und Geheimdiensten? Werden wir noch schneller dem autoritären Präventions- und Kontrollstaat näher rücken?

Eine große Koalition hätte hierfür zwar Handlungsspielraum, aber der designierte Innenminister Wolfgang Schäuble dürfte moderater sein als Schily und Beckstein. Die Koalitionsparteien werden Schilys staatsautoritäres Erbe schlicht und fraglos übernehmen und daran herumfeilen - denn Rot-Grün hat die grobe Vorarbeit bereits erledigt. Die neue Koalition wird die "Antiterror"-Gesetze entfristen und keiner weiteren Evaluierung mehr unterziehen, wie es noch unter Rot-Grün - auf Druck der Bündnisgrünen - beschlossen worden war. Ebenso sollen die strengen Verfahrensregeln fallen, die bisher zu einem eher maßvollen Einsatz der neuen Eingriffs­befugnisse von Polizei und Geheimdiensten zur Datenerfassung und Datenverarbeitung geführt haben. Es bleiben also die prekären Antiterror-Gesetze in voller Gänze erhalten - unbefristet, ohne weitere Evaluierung.

Und es wird noch draufgesattelt: So sollen dem Bundeskriminalamt für die Terrorbekämpfung auch präventive, das heißt auch geheimpolizeiliche Befugnisse zur Gefahrenabwehr eingeräumt werden - also schon weit im Vorfeld von möglichen Straftaten und Gefahren. Darüber hinaus soll die nachträgliche Sicherungsverwahrung in besonders schweren Fällen auch bei Jugendlichen möglich werden. Und die Kronzeugenregelung wird wieder eingeführt und soll künftig für alle Arten von Delikten gelten. Wer als Angeklagter Aussagen macht, die zur Aufklärung von Straftaten und zur Überführung von Straftätern führen, könnte künftig also mit einer milderen Strafe davon kommen oder gar straffrei ausgehen.

Aus guten Gründen ist Ende 1999 die höchst umstrittene Kronzeugenregelung für die Bereiche Terrorismus und Organisierte Kriminalität ausgelaufen. Begründet wurde dies damals mit "Zweifeln an der Glaubwürdigkeit von Kronzeugen". Der ihnen in Aussicht gestellte Strafnachlass wirke wie ein "Anreiz zu falschen Verdächtigungen und Denunziationen". Nun soll das alles nicht mehr gelten? Der Warencharakter solcher Aussagen liegt in der Natur der Kronzeugenschaft. Der Beweiswert eines solchen Staatszeugen sinkt letztlich gegen Null, wie auch die Überzeugungskraft eines darauf gestützten Strafurteils.

Die künftige große Koalition will die unheilvolle Tradition fortsetzen, Freiheitsrechte und Datenschutz einem unhaltbaren Sicherheitsversprechen unterzuordnen. Doch die neue Bundesregierung sollte gewarnt sein: Es widerspricht dem Charakter einer liberalen und demokratischen Gesellschaft und einem ebensolchen Rechtsstaat, sich auf Symptome des Terrors, der Gewalt und Kriminalität zu konzentrieren und permanent an der staatlichen Aufrüstungsschraube zu drehen; denn die Eskalation polizeilicher, geheimdienstlicher oder gar militärischer Antiterror-Reaktionen - deren Effizienz ohnehin recht fraglich ist und die sich oft als kontraproduktiv erweisen - führt letztlich in ein anderes, ein illiberal-autoritäres System. Wir müssten stattdessen endlich einen umfassenderen Sicherheitsbegriff entwickeln, der jenseits von Polizei, Geheimdiensten und Militär verstärkt an den Ursachen und Bedingungen von Kriminalität, Terror und Gewalt ansetzt.

Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Publizist und Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, veröffentlichte zuletzt: Geheime Informanten: V-Leute des Verfassungsschutzes - Kriminelle im Dienst des Staates, Knaur-Verlag München 2003.