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23. April 2021
Interview
VERFASSUNGSSCHUTZ-SKANDAL
Herr Gössner, Sie wurden fast
40 Jahre zu
Unrecht vom Verfassungsschutz
überwacht.
Macht das nicht paranoid?
Fast 40 Jahre wurde Rolf Gössner vom Verfassungsschutz bespitzelt
– zu Unrecht, wie ein Gericht kürzlich urteilte. Auf eine Entschuldigung wartet
er bis heute.
Von Kerstin Herrnkind
Herr Gössner,
wir telefonieren. Können wir sicher sein, dass der Verfassungsschutz uns nicht
abhört?
Rolf Gössner: Sicher kann man in dieser Hinsicht nie sein. Aber ich gehe davon
aus, dass wir nicht abgehört werden.
Das Bundesamt
für Verfassungsschutz hat Sie fast 40 Jahre "in handgreiflicher Weise
unangemessen" überwacht. Das haben die Richter des Bundesverwaltungsgerichts
kürzlich in ihrem Urteil rechtskräftig festgestellt.
Ja, und damit
ist die gesamte Überwachung von Anfang an grundrechtswidrig.
Der
Anwalt und Menschenrechtler Rolf Gössner (hinten) wurde schon als Student vom
Verfassungsschutz überwacht. Inzwischen ist er Stellvertretender Richter am
Staatsgerichtshof in Bremen.
Haben sich
Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, oder
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bei Ihnen gemeldet? Vielleicht, um
sich zu entschuldigen?
Das ist nicht
passiert. Mich verwundert das eigentlich nicht, obwohl ich eine Entschuldigung
für angebracht hielte – auch eine Wiedergutmachung. Allein schon, wegen der
Dauer der Überwachung und weil mir der Verfassungsschutz bis zuletzt in verleumderischer
Weise "verfassungsfeindliche Bestrebungen" unterstellt hat.
Sie sind
jetzt 73, waren noch Student, als der Verfassungsschutz sie ins Visier nahm.
Wie fing das an?
Es begann
Ende der 1960er Jahre mit meiner Jugendliebe zu einer Polin, die in Warschau
lebte. Das war damals, zu Hoch-Zeiten des Kalten Kriegs und des Ost-West- Konflikts,
eine höchst verdächtige und offenbar auch gefährliche Liebe, die dann auch ganz
rasch ins Visier der Geheimdienste hüben wie drüben geriet. Überwachung inklusive.
Wie alt waren
Sie damals?
Ich war noch
keine 20, meine damalige Freundin etwa zwei Jahre jünger.
Eine
hochverdächtige Teenagerliebe, also. Wie haben Sie bemerkt, dass der Geheimdienst
sie überwacht hat?
Ich bemerkte
ab und zu, dass wir observiert wurden. Unsere Briefe kamen geöffnet an, der
Inhalt war oft unvollständig. Eines Tages stand ein Verfassungsschützer bei
meiner Familie auf der Matte und warnte sie, ich solle nicht mehr in den
kommunistischen Osten reisen, das sei zu gefährlich. Ich reiste trotzdem weiter
in Länder des "Ostblocks" und ging seitdem davon aus, dass ich auf
dem Schirm des Verfassungsschutzes war. Auch wenn meine Personenakte beim
Bundesamt für Verfassungsschutz erst 1970 beginnt.
Was haben Sie
denn 1970 gemacht?
Ich studierte
Jura an der Universität Freiburg, engagierte mich politisch im Studentenrat,
beim AStA, war Chefredakteur der Freiburger Studentenzeitung. Seitdem, das weiß
ich ja nun rückwirkend, stand ich unter permanenter Beobachtung des Bundesamtes
für Verfassungsschutz. Damals wusste ich allerdings noch nichts von dieser
Überwachung, erlebte aber merkwürdige Dinge.
Was für
merkwürdige Dinge?
Mutmaßlich
ein Verfassungsschützer aus Köln horchte meine Nachbarn über mich aus. Der
wollte wissen, was ich so treibe und ob es Auffälligkeiten gebe. Hinzu kamen zeitweise
recht offensichtliche Observationen, bei denen ich gezielt fotografiert wurde.
Wird man da
nicht paranoid?
Naja, das
hätte ja auch Zufall sein können. Ich wusste damals nicht, ob das nur aufdringliche
Touristen waren.
1996 wurde
aus der dunklen Ahnung Gewissheit. Sie stellten einen Antrag auf Auskunft und
erfuhren, dass der Verfassungsschutz sie seit über 25 Jahren überwachte.
Inzwischen waren Sie Anwalt, Publizist und Politikberater. Alles Berufe, bei
denen Vertrauen wichtig ist. Konnten Sie überhaupt noch arbeiten?
Das war in
der Tat problematisch. Berufsgeheimnisse und Vertraulichkeit waren mehr als
beeinträchtigt. Als Publizist musste ich meine Informanten und Whistleblower gerade
im Zuge heikler investigativer Recherchen im Bereich innerer Sicherheit aufwändig
absichern. Nicht selten mussten Kontakte unterbleiben oder abgebrochen werden.
Ein Anwalt,
der das Mandatsgeheimnis nicht wahren kann, der kann doch einpacken. Können Sie
sagen, wie viele Mandate und Honorare Sie über die Jahre nicht erhalten oder
verloren haben?
Nein - das
wäre auch nicht wirklich nachweisbar, deshalb kann ich auch keinen Schadensersatz
beanspruchen. Doch mein Renommee als Bürgerrechtler ist trotz der Diffamierung
durch den Verfassungsschutz nicht etwa zerstört, eher noch gesteigert worden.
Viele Menschen sind ja gerade zu mir gekommen, weil sie wussten, dass ich beobachtet
werde und wollten meinen Rat, wie man sich gegen staatliches Unrecht wehren
kann.
Hat die
Überwachung Ihnen psychisch zugesetzt?
Psychisch bin
ich rückwirkend betrachtet doch relativ glimpflich davongekommen. Das liegt
auch an meinem sozialen Umfeld, das sehr gut damit umgegangen ist. Und dass die
Öffentlichkeit Anteil genommen hat. Nachdem bekannt wurde, dass der Verfassungsschutz
mich überwacht, habe ich viel Unterstützung erfahren, unter anderem von
Schriftstellern wie Günter Grass und anderen Künstlern. Ich bin nicht in psychologischer
oder irgendeiner anderen Behandlung gewesen. Das hatte ich glücklicherweise nicht
nötig. Ich habe das Ganze auch nicht nur negativ wahrgenommen, sondern es
positiv gewendet: zu einem anschaulichen Lehrstück in Staatskunde, das ich für
meine Bürgerrechtsarbeit sehr gut nutzen konnte.
Es gibt
Situationen, die Kafka nicht besser hätte erfinden können. Das Bundesamt für
Verfassungsschutz hat sie überwacht. Zur gleichen Zeit lädt der hessische Verfassungsschutz
sie als Referenten ein. Thema: Verfassungsschutz - eine Behörde ohne Zukunft?
Ja, das war
1996. Der hessische Verfassungsschutz hatte mich ins Schloss Biebrich zu einer
Diskussion mit dem damaligen hessischen Innenminister Gerhard Bökel (SPD) eingeladen.
Es ging um die von Ihnen zitierte Frage nach der Zukunft des Verfassungsschutzes.
Das war genau einen Tag, nachdem ich erfahren hatte, dass ich schon seit über
25 Jahren unter Beobachtung stand. Ich habe dort meine Thesen zur "sozialverträglichen
Auflösung des Verfassungsschutzes" vorgestellt, weil ich ihn für demokratie-unverträglich
halte. Und dann habe ich zur Untermauerung erstmals öffentlich erzählt, dass
das Bundesamt mich überwacht.
Wie
reagierten die versammelten Staats- und Verfassungsschützer?
Ich blickte
in versteinerte Gesichter. Nach meinem Vortrag – das passiert nicht häufig – hat
sich keine Hand gerührt.
Zum Honorar
bekamen Sie vom Verfassungsschutz auch eine Flasche Wein. Der taz haben Sie
erzählt, sie hätten sich lange nicht getraut, den Wein zu trinken. Fürchteten
Sie wirklich, vergiftet zu werden?
Na ja, das
ginge schon in Richtung Paranoia, die ich ja Gott sei Dank nie hatte. Ich habe gedacht,
die Flasche hebe ich mir bis zum 50sten Geburtstag des Verfassungsschutzes auf.
Im Jahr 2000,
also. Haben Sie so lange durchgehalten?
Sogar noch
länger. Als wir sie dann öffneten, informierten wir Bekannte, falls was passieren
sollte. Aber es war ein vorzüglicher Wein aus dem hessischen Staatsweingut – ohne
schlimme Nebenwirkungen.
Sie haben 15
Jahre lang gegen den Verfassungsschutz prozessiert. Wie haben Sie das finanziert?
Die
Finanzierung war nicht so problematisch, zumal ich dankenswerterweise Rechtsschutz
von meiner Gewerkschaft Ver.di erhielt, weil ich ja besonders als Publizist betroffen
war.
Die Kosten
trägt nun der Steuerzahler. Haben Sie eine Ahnung, wie viel Geld der Prozess
und ihre Überwachung gekostet haben?
Nein, nicht
wirklich. Doch die Kosten der jahrzehntelangen Überwachung dürften überschlägig
im höheren fünfstelligen Bereich liegen. Und auch für das Verfahren kommt
einiges zusammen, da die Bundesregierung ein teures Anwaltsbüro beauftragt hat.
Also: Die Gesamtkosten dürften in die Abertausende gehen. Eigentlich ein Fall
für den Bundesrechnungshof – wegen Verschwendung öffentlicher Gelder. Eine
solche Überprüfung steht noch aus.
Wissen Sie,
was der Verfassungsschutz über Sie gesammelt hat?
Nur
auszugsweise, denn von den weit über 2.000 Seiten, die meine Akte umfasst, sind
nur etwa 20 Prozent lesbar. Der Rest ist geschwärzt oder der Akte entnommen.
Auch gegen diese Geheimhaltung und Aktenmanipulation habe ich geklagt. Ohne Erfolg.
Alle gesperrten Teile müssen geheim bleiben. Und zwar aus Gründen des
"Staatswohls" und des "Quellenschutzes".
Was steht in
den Akten, die lesbar sind?
Das sind
zumeist meine eigenen Artikel und Interviews in bestimmten Presseorganen, die
der Verfassungsschutz dem "linksextremistischen" Umfeld zurechnet.
Dazu zählten seinerzeit "Blätter für deutsche und internationale
Politik", "Demokratie und Recht", später auch "Neues
Deutschland" oder "Junge Welt".
Der
Verfassungsschutz hat für Sie also ein gut sortiertes Pressearchiv angelegt?
So kann man
sagen. Interessant dürften jedoch die geschwärzten Seiten sein – etwa die Berichte
von Spitzeln, die über mich und meine Veranstaltungen oder über meine beruflichen
Kontakte zu inkriminierten Gruppen wie der "Vereinigung der Verfolgten des
Naziregimes" (VVN) berichteten. Übrigens ist die geschwärzte Akte bereits
im Museum für Kommunikation in Berlin und Frankfurt ausgestellt worden.
Außer Ihnen
hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz auch Petra Pau, Vizepräsidentin des
Bundestages, und Bodo Ramelow, Ministerpräsident in Thüringen, im Visier.
Gleichzeitig zogen Rechtsterroristen des NSU durchs Land und ermordeten zehn
Menschen. Wie kann das sein?
Das ist in
der Tat erklärungsbedürftig. Mich hat auch ziemlich schockiert, mit welcher ideologischen
Verbissenheit der Inlandsgeheimdienst mich und viele andere Linke jahrzehntelang
beobachtet hat, während gleichzeitig Nazis, unbehelligt ihre Blutspur durchs
Land ziehen konnten. Eine Erklärung ist, dass der Verfassungsschutz selbst altnazistische
Wurzeln hatte und ein antikommunistisches Kind des Kalten Krieges ist und
deshalb ganz besonders Linke und Kommunisten zu Beobachtungsobjekten machte.
Brauchen wir
den Verfassungsschutz?
In seiner
bisherigen Ausprägung und Ausrichtung ist der Verfassungsschutz eine Gefahr für
die Demokratie, weil er weder transparent noch demokratisch kontrollierbar ist
sowie zu Skandalen und Verselbständigung neigt.
Sie sind auch
gegen die Überwachung der AfD durch den Verfassungsschutz. Warum?
Eine
Beobachtung der AfD durch diesen Verfassungsschutz wäre eher kontraproduktiv. Am
Ende wirbt er noch V-Leute an und verstrickt sich wieder. Ähnlich wie beim Thüringer
Heimatschutz, aus dem die NSU-Terroristen hervorgegangen sind.Die AfD kann man
auch so schon durchschauen - im Übrigen empfehle ich eine offene und harte gesellschaftliche
Auseinandersetzung.
Welche
Konsequenzen fordern Sie als Überwachungsopfer des Verfassungsschutzes?
Der uferlosen
Beobachtung von nicht parteigebundenen, unabhängigen Personen mit beruflichen
Kontakten zu legalen Vereinigungen, die unter Beobachtung stehen, muss ein
Riegel vorgeschoben werden. Eine offene, liberale Demokratie lebt von Kritik
und Auseinandersetzung - auch und gerade mit politisch Andersdenkenden. Der ideologischen
Gesinnungsschnüffelei des Verfassungsschutzes muss Einhalt geboten werden. Die
Eingriffsschwelle, ab der der Verfassungsschutz tätig werden darf, muss deshalb
höher geschraubt werden. Erst wenn eine Gewaltorientierung zu erkennen ist, darf
überwacht werden. Nicht, wenn dem Verfassungsschutz eine Gesinnung verdächtig vorkommt.
Ihre
Bespitzelung begann mit einer Jugendliebe. Haben Sie noch Kontakt?
Nein, schon
lange nicht mehr. Letztlich ist die Beziehung auch an den politischen Widrigkeiten
des Kalten Krieges zerbrochen.
Wissen Sie,
was aus Ihrer Jugendliebe geworden ist?
Sie wurde
Journalistin.
Das neue Buch von Rolf Gössner:
„Datenkraken im Öffentlichen Dienst.
‚Laudatio’ auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat“
erscheint Anfang Mai 2021 im PapyRossa-Verlag, Köln, und kostet 19.90 Euro:
https://shop.papyrossa.de/Goessner-Rolf-Datenkraken-im-oeffentlichen-Dienst
Frühere
Berichte zu dem Überwachungsfall aus dem „stern“:
www.stern.de/politik/deutschland/verfassungsschutz-schlapphuete-sehen-rot-612872.html
http://www.stern.de/politik/deutschland/612872.html