Fußball-WM
im Ausnahmezustand: „Internationale Liga für Menschenrechte“
hält nationale Sicherheitskonzeption für populistisch, überzogen und
bürgerrechtsschädlich
Liga-Präsident
Rolf Gössner: „Die Fußball-WM gerät mehr und mehr zu einer Antiterrorübung und
zum Einfallstor für fragwürdige Sicherheitsmaßnahmen und -techniken.“
In
zehn Tagen beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft 2006. „Die Welt zu Gast bei
Freunden“ – dieses WM-Motto droht nach Auffassung der Internationalen Liga für
Menschenrechte zum Etikettenschwindel zu geraten. Die horrenden Bedrohungsszenarien
des Nationalen Sicherheitskonzepts und der Politik der „Inneren Sicherheit“
lassen Horden betrunkener Fußball-Fans, gewaltbereiter Hooligans,
fingerfertiger Taschendiebe, brutaler Zuhälter und Menschenhändler erwarten –
„eine Weltmeisterschaft von Kriminellen und Gewalttätern“. Doch als größte
Bedrohung gilt einmal mehr die Gefahr des internationalen und islamistischen
Terrorismus, obwohl es hierfür selbst nach offiziellen Angaben bis heute
keinerlei Anzeichen gibt – „im Gegensatz zum alltäglichen rassistischen
Terror gegen Migranten, der offiziell immer wieder gehörig heruntergespielt
wird“, erklärte heute Liga-Präsident Dr. Rolf Gössner.
Nach
Auffassung der Liga wird das sportliche Mega-Ereignis zum Anlass genommen, den
Staat noch weiter aufzurüsten, verschärft auf Überwachung und Kontrolle zu
setzen, auf Abschottung und Ausgrenzung. Ein Großaufgebot von Polizei und Geheimdiensten,
Schnelljustiz und Militär ist mobilisiert, um gegen die beschworenen Gefahren
gewappnet zu sein - von denen etliche nie auszuschließen und auch mit noch so
rigiden Präventionsmaßnahmen nicht wirklich zu verhindern sind, wie gerade der
Amoklauf im neu eröffneten Berliner Hauptbahnhof gezeigt hat.
Selbstverständlich
müssen die Sicherheitsorgane auf ein Großereignis dieser Dimension gut vorbereitet
sein. Doch die offizielle Sicherheitspolitik baut auf diffuse, teils geschürte
Terror-Ängste und macht der Bevölkerung mit ihrem „populistischen Aktionismus
letztlich unhaltbare Sicherheitsversprechen,“ kritisiert Rolf Gössner. Derweil gerät die WM zu einer Art von Antiterrorübung
und zugleich zum Einfallstor für umstrittene Präventivmaßnahmen und fragwürdige
Sicherheitstechniken, um deren Massenanwendung im Großfeldversuch zu testen und
letztlich durchzusetzen. Aus der Fülle der Maßnahmen sei an wenige Beispiele erinnert,
die mit schwerwiegenden Grundrechtseingriffen verbunden sind:
·
Zum Erwerb von
WM-Tickets mussten Besteller höchst persönliche Daten inklusive Ausweisnummer
preisgeben und sich einem Datenabgleich unterziehen lassen; die Tickets sind zu
Kontrollzwecken mit RFID-Chips bestückt, die per Funk unbemerkt aus der Distanz
auslesbar sind und mit deren Hilfe auch Bewegungsbilder der Betroffenen
erstellt werden können;
·
über 250.000
WM-Beschäftigte – von Fußballspielern über Journalisten bis hin zu
Würstchenverkäufern und Reinigungskräften – mussten sich
Sicherheitsüberprüfungen durch Polizei und Geheimdienste unterziehen lassen –
der größte Sicherheitscheck in der Bundesrepublik;
·
Stadien und Stadtzentren
werden zu Hochsicherheitszonen ausgebaut, einer flächendeckenden Videoüberwachung
unterzogen und von unliebsamen Personen „gesäubert“;
·
der Luft- und Landraum
wird durch AWACS-Aufklärungsflugzeuge überwacht und Tausende von Bundeswehrsoldaten
werden als nationale Sicherheitsreserve im Innern des Landes eingesetzt.
„An
solche Militäreinsätze im Inland soll sich die Bevölkerung allmählich gewöhnen
und die WM dient dabei als willkommenes Exerzierfeld“, stellt Liga-Präsident
Gössner fest, „obwohl Soldaten keineswegs für zivil-polizeiliche Aufgaben
ausgebildet sind, obwohl Polizei und Militär schon aus historischen Gründen sowie
nach der Verfassung grundsätzlich zu trennen sind.“
Es scheine, so Gössner,
„als würde der Ausnahmezustand geradezu herbeiphantasiert, als müsse sich der
Gastgeber Deutschland vor einem feindlichen Überfall schützen, als wäre die WM
ein Großschadensereignis und kein Sportfest. Wir erleben einen populistischen
Sicherheitsaktionismus, der ganz besonders den Daten- und Persönlichkeitsschutz
und damit Bürgerrechte von Hunderttausenden von Menschen schwer beschädigt –
und einem vermeintlichen Mehr an Sicherheit opfert, ohne die Risiken damit wirklich
ausschalten zu können. Mit der WM rückt der autoritäre Präventions- und
Sicherheitsstaat um ein ganzes Stück näher“.
Ausführlicher:
Rolf Gössner in der Ost-West-Zeitung „FREITAG“
(Berlin) vom 2.6.06
sowie in der Zweiwochenschrift „OSSIETZKY “
11/2006 (Hannover/Berlin): www.sopos.org/ossietzky