* Gustav-Heinemann-Initiative * Humanistische Union *

Internat. Liga für Menschenrechte * Strafverteidiger-Vereinigungen *

Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen *

* BAG Kritische Polizistinnen und Polizisten *

Deutsche Vereinigung für Datenschutz *

* Europäische Vereinigung von Juristen und Juristinnen
für Demokratie und Menschenrechte in der Welt e.V. *

 

Kontaktadresse: RA Dr. Rolf Gössner,

 

Bremen/Berlin, 08. Oktober 1998

Sperrfrist: 09. Okt. 1998, 09 Uhr

 

 

Pressemitteilung

 

Die acht im Briefkopf genannten Bürgerrechtsorganisationen haben heute ein von dem Bremer Rechtsanwalt und Publizisten Rolf Gössner verfaßtes Memorandum

“Umdenken und Umsteuern in der Politik der ‘Inneren Sicherheit’ -

Zumutungen an eine rot-grüne Bundesregierung”

den Mitgliedern der rot-grünen Verhandlungskommission zugehen lassen.

Der durch die Bundestagswahl 1998 möglich gewordene Machtwechsel bietet die historische Chance, den in den vergangenen Jahren systematisch malträtierten Bürgerrechten wieder die Geltung zu verschaffen, die ihnen in einer freiheitlichen, so­zial- und rechtsstaatlichen Demokratie zukommt.

Die Bürgerrechtsorganisationen fordern angesichts der gerade stattfindenden rot-grünen Koalitionsverhandlungen das Ende des permanenten Abbaus von Grund- und Bürgerrechten. Sie fordern die Abkehr von einer längst gescheiterten repressiven Kriminalpolitik - eine Absage an die Dominanz polizeilicher und strafrechtlicher Mittel bei der “Lösung” von Problemen und Konflikten, die sozialpolitisch und ökonomisch verursacht sind.

Die Organisationen verweisen darauf, daß in der deutschen Geschichte Freiheit und Leben der Menschen mehr von der Obrigkeit, dem “gesunden Volksempfinden” und ökonomischen Interessen gefährdet wurden als von Kriminellen und sozialen Außenseitern.

Neben einer ursachenorientierten Kriminalpolitik brauche dieses Land einen Demokratisierungs- und Humanisierungsschub; die Exekutive müsse transparenter werden und sich konsequenter als bisher der öffentlichen Kontrolle stellen.

Über die vorrangige Aufgabe der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Armut hinaus fordern die Bürgerrechtsorganisationen für den Bereich Bürgerrechte und Öffentliche Sicherheit:

·     das Staatsbürgerschaftsrecht zu ändern und die Integration von Migranten zu fördern, auch unter Hinnahme doppelter Staatsbürgerschaft;

·     die Asyl- und Flüchtlingspolitik grundlegend zu ändern und das Asylrecht auf den Standard der UN-Flüchtlingskonvention zu heben;

·     besonders problematische Gesetzverschärfungen der Vergangenheit - Terrorismusgesetze, Großer Lauschangriff, Verdachtsunabhängige Kontrollen etc. - entweder rückgängig zu machen oder aber einschränkend zu novellieren;

·     Gesetze, die Bürgerrechte stark einschränken, einer gründlichen Revision zu unterziehen und auf ihre Bürgerrechtsverträglichkeit und Effizienz zu untersuchen;

·     vor polizeilichen und strafrechtlichen Maßnahmen gegen Kriminalität an die erste Stelle vorsorgende soziale, pädagogische und wirtschaftliche Hilfen zu setzen;

·     die gescheiterte Drogenprohibition durch eine behutsame Liberalisierung und Ent­kriminalisierung zu ersetzen, die Hilfe statt Strafe ermöglicht; damit werden auch Polizei und Justiz entlastet;

·     Bagatelldelikte, die mit Bußgeldern ausreichend sanktionierbar sind, zu entkriminalisieren;

·     die Polizeien in Bundesverantwortung einer demokratischen Reform zu unterziehen und geeignete Konsequenzen aus der notorisch mangelhaften Kontrolle von Polizeihandeln zu ziehen;

·     Polizei und Geheimdienste strikt zu entflechten und dem in der Vergangenheit systematisch negierten, nach wie vor verfassungskräftigen Gebot der Trennung von Polizei und Geheimdiensten wieder volle Geltung zu verschaffen;

·     die demokratische Kontrolle sämtlicher Apparate der “Inneren Sicherheit” zu verbessern;

·     für einen wirksamen Datenschutz zu sorgen, der der Entwicklung der Informationsgesellschaft Rechnung trägt;

·     die mangelhafte demokratische Legitimation und Kontrolle von Europol und des Schengener Informationssystems kritisch zu überprüfen und der unerträglichen Immunität der Europolizisten zu widersprechen.

Von einer rot-grünen Regierung wird die Humanisierung der Gesellschaft und ein konsequenter Ausbau demokratischer Strukturen erwartet. “Der Erfolg des rot-grünen Projektes wird nicht zuletzt entscheidend davon abhängen, ob diese Gesellschaft und dieser Staat im Verlaufe der anstehenden Regierungsperiode ein Stück menschlicher, demokratischer und bürgerrechtsverträglicher geworden sein wird”, heißt es in dem Memorandum. Die unterzeichnenden Bürgerrechtsorganisationen werden sich weiterhin aktiv in diesen Prozeß einmischen sowie den Koalitionsvertrag und eine rot-grüne Regierungsära kritisch-differenziert analysieren und beurteilen.

U.F./rg.

 

Aktualisierte Neufassung für „Neue Kriminalpolitik“ (NKP) 2-1999:

 

Rolf Gössner 

"Aufbruch und Erneuerung” für die Bürgerrechte?

Rot-grüne Modernisierung statt Ausstieg aus dem autoritären Sicherheitsstaat

 

Wird es unter der rot-grünen Bundesregierung ein Umdenken und Umsteuern in der Politik der ”Inneren Sicherheit” geben, wie es im Oktober 1998 von acht Bürgerrechtsorganisationen angemahnt wurde? Oder nichts als ”Normalität” und ”Kontinui­tät” - Vokabeln, mit denen die Koalitionspartner frühzeitig alle Erwartungen zu dämpfen suchten. Zumindest wenn man Ordnungshüter Otto Schily (SPD) reden hört, den ”neuen” Bundesinnenminister, denkt man ganz automatisch an den alten. Das hätten die Herren Kanther, Stoiber und Schönhuber an ihren Stammtischen nicht deutlicher formulieren können: ”Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung ist überschritten.” Auch ein Einwanderungsgesetz könne an dieser Situation nichts ändern, da die Zuwanderung dann auf ”Null” gesetzt werden müßte.

I. Deutschland – (k)ein Einwanderungsland?

”Wir erkennen an, daß ein unumkehrbarer Zuwanderungsprozeß in der Vergangenheit stattgefunden hat und setzen auf die Integration der auf Dauer bei uns lebenden Zuwanderer, die sich zu unseren Verfassungswerten bekennen.” So steht es im rot-grünen Koalitionsvertrag vom Oktober 1998. Dieser Satz schien all jene zu ermutigen, die auf eine solche überfällige Feststellung schon lange gewartet haben. Doch wer genauer hinschaut, muß feststellen, daß sich diese Anerkennung des Zuwanderungsprozesses ausschließlich auf die Vergangenheit bezieht - nicht auf die Gegenwart und schon gar nicht auf die Zukunft. Deutschland - ein Einwanderungsland? Aber nein, signalisiert uns die rot-grüne Vereinbarung mit diesem Satz: Der Zuwanderungsprozeß ist abgeschlossen und Vergangenheit. Jetzt wird eine gewisse Auslese der zugewanderten ”Altlasten” so gut wie möglich integriert. Auf diesen Koalitionsvertrag, das zeigen die Weglassungen, ist jedenfalls die Forderung nach einem Zuwanderungsgesetz nicht zu stützen.

 

Otto Schily hat mit seinen stammtischkompatiblen Anmerkungen nichts anderes getan, als die Vertragsformel, die er zuvor mit Bedacht in die Koalitionsvereinbarung diktiert hatte, öffentlich zu bekräftigen und daraus eine durchaus populäre, ausgrenzende Schlußfolgerung zu ziehen, die an die Metapher ”Das Boot ist voll” gemahnt. Trotz dieser sich aufdrängenden Assoziationen ist Hardliner Otto Schily allerdings kein Rechtsaußen in der SPD-Landschaft, sondern Repräsentant einer in dieser Partei vorherrschenden Law-and-order-Mentalität mit Tradition: Schon in den sozialliberalen 70er Jahren und während ihrer Oppositionszeit – zuweilen in faktisch Großer Koalition mit der rechtsliberalen Bundesregierung - hat die SPD diese Haltung unter Beweis gestellt. Als vermeintlicher Ex-Linker und ehemaliger RAF-Anwalt wirkt der konvertierte Ex-Grüne Otto Schily in seiner nicht mehr ganz so neuen SPD-Heimat möglicherweise nur etwas ”schärfer” als es eine rot-grüne Bundesregierung mit Rücksicht auf den grünen Partner eigentlich vertragen könnte.

II. Reform des Staatsbürgerschaftsrechts mit Hindernissen...

Der Doppelstratege Otto Schily (SPD) probte den politischen Spagat, der für Rot-grün typisch werden könnte: Mit seiner Feststellung, die ”Grenzen der Belastbarkeit” durch Zuwanderung seien überschritten, hat er dem ”Ausländer-raus”-Geschrei gleichsam regierungsamtliche Legitimation verschafft und nicht nur den rechten Rand begeistert. Mit seinem Mitte Januar 1999 vorgelegten Gesetzentwurf zur Neufassung des antiquierten Staatsbürgerschaftsrechts brachte derselbe Bundesinnenminister nicht nur den rechten Rand in Rage, sondern auch die alte Mitte, die von Stund‘ an gemeinsam das ausländerfeindliche, völkische und rassistische Potential zu mobilisieren vermochte. Nach der Hessenwahl vom Februar 1998 wird dieses herausragende grün-rote Reformprojekt für die Niederlage der ”Grünen” und für den Wahlsieg der CDU verantwortlich gemacht.

Nach diesem Wahldebakel suchten die Koalitionäre fieberhaft nach mehrheitsfähigen ”Kompromissen”. Damit geriet diese überfällige Novellierung, eines der wichtigsten Reformprojekte der rot-grünen Bundesregierung, jedoch in Gefahr, die Substanz zu verlieren. Im Kern geht es bei der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts um die Abkehr vom völkischen Blutsrecht und um die Schaffung eines republikanischen „ius soli“ für alle in Deutschland geborenen und hier langfristig lebenden Menschen. Mit dieser Veränderung würde das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht nicht nur auf europäisches Niveau gehoben; es würde vor allem die Rechtsposition von vielen bislang rechtlich diskriminierten und politisch ausgegrenzten Menschen stärken. Ohne diesen Reformkern wäre die Reform hinfällig.

Lang und intensiv tobte der politische Streit um ein Detail: die doppelte Staatsbürgerschaft. Diese sollte nach Vorstellung der Grünen und nach der Festlegung im Koalitionsvertrag als Mittel der Einbürgerungserleichterung hingenommen werden, weil nicht alle Neubürger ihre alte Staatsbürgerschaft aufgeben wollen oder weil manche Staaten – wie etwa die Türkei – sie gar nicht daraus entlassen oder horrende ”Ablöse”-Summen verlangen. Doch der generelle Doppelpaß gilt nicht mehr als mehrheitsfähig – weil nach der Hessenwahl die rot-grüne Mehrheit im Bundesrat abhanden gekommen ist. Der „Kompromiß“ ist inzwischen in einem leicht modifizierten Optionsmodell nach F.D.P.-Muster gefunden worden, wonach ausländische Jugendliche, die von Geburt an den deutschen und einen ausländischen Paß besitzen, sich bis zum 23. Lebensjahr für eine Staatsangehörigkeit entscheiden müssen – obwohl eine solchermaßen aufgezwungene Entscheidung zu schweren Gewissenskonflikten und Zerwürfnissen in den betroffenen Familien führen kann. Erwachsene sollen grundsätzlich nur eingebürgert werden, wenn sie ihre alte Staatsbürgerschaft aufgeben. Mit dieser Lösung ist von den Vorstellungen im Koalitionsvertrag nicht mehr allzuviel übriggeblieben.

... mit hohen Hürden: Staatlich geprüfte Neubürger?

Die politische Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft zielte im Kern auf die gesamte Reform, widersetzte sich der Abkehr vom völkischen Blutsprinzip, die mit dem jetzt gefundenen „Kompromiß“ wenigstens gelungen ist. Dieser medienbeherrschende, aber vordergründige Streit um den Doppelpaß verdeckte jedoch, daß alle Gesetzentwürfe des Innenministeriums gravierende Beschränkungen und Hürden enthalten, die Rot-grün als Filter vor einen Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft aufzubauen gedenkt und die unverkennbar Otto Schilys Handschrift tragen. Die Hindernisse, um die es dabei geht, könnten sich rasch als ausgrenzend erweisen, denn sie ermöglichen eine ganz bestimmte Auslese von Begünstigten:

Die Bewerber müssen eine schriftliche Erklärung abgeben, in der sie sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes bekennen. Ein solches Bekenntnis soll dann nicht genügen, wenn der Bewerber ”Bestrebungen verfolgt oder unterstützt hat, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben oder die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden”. In einem solchen Fall besteht kein Anspruch auf Einbürgerung.

Wie diese ”Bestrebungen”, Unterstützungen”, ”Beeinträchtigungen” und ”Vorberei­tungshandlungen” jeweils festgestellt werden sollen, bleibt im Gesetzentwurf völlig offen. Steht uns womöglich wieder die Regelanfrage an den ”Verfassungsschutz” ins Haus, wie weiland bei den Berufsverboten? Noch dementiert der Bundesinnenminister solche Vorahnungen. Er will sich zunächst mit dem geforderten schriftlichen Bekenntnis der Bewerber zu ihrer Verfassungstreue begnügen. Stelle sich aber, droht er unverhohlen, im nachhinein heraus, daß ein Neubürger doch verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt habe, dann sei die Einbürgerung von Anfang an nichtig.

Ob die Bundesregierung es will oder nicht, die geplante Regelung öffnet das Tor zu solchen Regelanfragen der Einbürgerungsbehörden beim Verfassungsschutz. Jedes Bundesland könnte nämlich in eigener Regie eine solche Routinemaßnahme zur Gesinnungsüberprüfung beschließen; eine verwaltungsinterne Anweisung, vergleichbar dem ”Radikalenerlaß” aus den 70er Jahren, würde ausreichen. Die Betroffenen könnten sich dagegen nur schwer zur Wehr setzen. Doch selbst wenn keine Regelanfrage stattfindet, stünde es den Einbürgerungsbehörden frei, in vielen Einzelfällen Anfragen beim Verfassungsschutz zu starten - ein Verfahren, das mit ziemlicher Sicherheit ganze ethnische Personengruppen betreffen würde, wie etwa Kurden, deren Nähe zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hierzulande als notorisch gilt.

Nichtdeutsche werden von den Ämtern für Verfassungsschutz ohnehin erheblich häufiger erfaßt als Deutsche – etwa 20mal so oft. Den Behörden müßte es geradezu verschwenderisch vorkommen, dieses Reservoire an ”Erkenntnissen” nicht zu nutzen und zu mehren. Der stellvertretende Datenschutzbeauftragte Schleswig-Holsteins, Thilo Weichert, machte deswegen erhebliche datenschutzrechtliche Bedenken gegen den Gesetzentwurf geltend: Gerade wegen der hohen Quote geheimdienstlicher Erfassung von Ausländern und wegen des oft ”nur wenig abgesicherten Erkenntnisstandes der Ämter für Verfassungsschutz” sieht er ein ”hohes Risiko” voraus, daß Ausländerinnen und Ausländer im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens ”ungerechtfertigt mit dem Vorwurf einer verfassungsfeindlichen Bestrebung konfrontiert werden”.

Auch die Auffassung des Innenministers, eine bereits erfolgte Einbürgerung könne bei nachträglicher Feststellung von verfassungsfeindlichen Bestrebungen nichtig sein und rückwirkend entzogen werden, ist für Weichert nicht nachvollziehbar. Schließlich darf nach Art. 16 Grundgesetz grundsätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit nachträglich nicht entzogen werden, in Ausnahmefällen nur dann, wenn keine Staatenlosigkeit droht.

Auch die weiteren Hürden der geplanten Novelle haben es in sich: So müssen die Bewerber für ihren Lebensunterhalt “nachhaltig” selbst sorgen können, dürfen also nicht arbeitslos sein oder von Sozialhilfe leben. Seit Jahren ist die Arbeitslosenquote bei Ausländern drastisch höher als bei Bundesbürgern. In Niedersachsen beispielsweise liegt die allgemeine Quote bei 12 Prozent, die der ausländischen Arbeitnehmer bei 26,5 Prozent. In Bayern liegt das Verhältnis bei 7,3 zu 13 Prozent, in Berlin gar bei 15 zu 33. Unverschuldet verlieren viele der früher eigens für bestimmte Industrien angeworbenen ”Gastarbeiter” ihre Arbeitsplätze, weil die Branchen mittlerweile unrentabel geworden oder die Betriebe veraltet sind. Schilys erste Entwürfe sehen, anders als das aktuelle Recht, eine Sozial- oder Härteklausel weder für Arbeitslose noch für Sozialhilfeempfänger vor. Es wäre dann also vollkommen gleichgültig, wie jemand arbeitslos geworden ist und welchen Beitrag er zum Wiederaufbau der Bundesrepublik geleistet hat. Keine Chance auf Einbürgerung hätte zum Beispiel jener Maurer, der nach 30 Jahren schwerer Berufstätigkeit in Deutschland vom Gerüst gefallen ist: Seine Invalidenrente reicht nicht zum Leben, so daß das Sozialamt drauflegen muß. Nach dem aktuellen Gesetzentwurf wäre das ein Grund, die Einbürgerung auszuschließen. Ein solches Staatsbürgerschaftsrecht ist nicht im bürgerrechtlichen Sinne liberal, sondern wirtschaftsliberal. Schilys Entwürfe verlangen darüber hinaus, daß sich die Bewerber um die deutsche Staatsbürgerschaft in der Bundesrepublik nicht strafbar gemacht haben dürfen.

Diese Hürden sollen unter den restriktiven und diskriminierenden Bedingungen des herrschenden Asyl- und Ausländerrechts aufgebaut werden, das unter Rot-grün kaum Veränderung erfahren wird: Nicht nur, daß dieses ”Recht” die Betroffenen bei der Aufnahme von Arbeit erheblich einschränkt, sondern es kann sie auch leicht zu Verstößen gegen das Ausländergesetz nötigen, zu spezifischen Straftaten, die von Deutschen überhaupt nicht begangen werden können. Dazu reicht es etwa aus, sich ohne Aufenthaltsgenehmigung oder ohne Paß im Bundesgebiet aufgehalten oder sich dem Verbot widersetzt zu haben, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder einer politischen Betätigung nachzugehen. Diese ausländerrechtlichen Vergehen können mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe geahndet werden. Vorgesehene Grenze: Wer wegen einer Gesetzesübertretung zu mehr als 90 Tagessätzen verurteilt worden ist, verwirkt seinen Anspruch auf Einbürgerung.

Kurzum: Die Modernisierung des Staatsbürgerschaftsrechts und die Einführung des nichtvölkischen Prinzips ist notwendig, weshalb das Vorhaben vehement verteidigt werden muß (nicht so lasch wie im hessischen Wahlkampf). Aber der Gesetzentwurf, der zwischen guten und schlechten, deutschfähigen und gefährlichen Ausländern unterscheidet, trägt illiberale, unsoziale und ausgrenzende Züge, die das gesamte Projekt schwer belasten und die ursprüngliche Zielsetzung einer erleichterten Einbürgerung konterkarieren könnten.

III. Humane Flüchtlings- und Asylpolitik?

Wie sieht es in den anderen Teilen des rot-grünen Koalitionsvertrages aus, wo es um Bürgerrechte und ”Innere Sicherheit” geht? Wie steht es etwa um eine humane Flüchtlings- und Asylpolitik? Fehlanzeige. Obwohl es gerade für das Asylrecht enormen Handlungsbedarf gibt, damit die zuständigen Stellen endlich zu einem menschlicheren Umgang mit Asylsuchenden finden, wird sich hier praktisch nichts verändern. Kein Wunder eigentlich, hatte doch die SPD bereits in ihrer Oppositionszeit tatkräftig an der Demontage des Asylgrundrechts mitgewirkt. Angesichts der fatalen Folgen dieser Demontage klingt es eher zynisch, lediglich die lange Dauer der prinzipiell inhumanen Abschiebehaft und des umstrittenen Flughafenverfahrens ”im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes” überprüfen zu wollen. Wie eine solche Überprüfung ausfällt und was dabei herauskommt, das läßt der Besuch des Bundesinnenministers in der Flüchtlingsunterkunft des Flughafens Frankfurt/M. erahnen: Danach will Schily weiterhin an dem fragwürdigen Schnellverfahren festhalten, lobt den Bundesgrenzschutz für sein ”sensibles Vorgehen” im Umgang mit den Flüchtlingen und kritisiert lediglich die Unterkunft in dem Transitgebäude C 183 als ”nicht ideal”. Die Flüchtlingsunterkunft wird nach und nach mit Metallzäunen, Stacheldraht und Bewegungsmeldern zu einer Art ”Hochsicherheitstrakt” ausgebaut, um die asylsuchenden Flüchtlinge an der Flucht in die Freiheit zu hindern. Die grüne Ausländerbeauftragte Marieluise Beck nennt nach ihrem Besuch die sozialen und sanitären Standards der Unterkunft ”katastrophal”, mahnt eine zusätzliche Einrichtung an, will aber mit Rücksicht auf die Koalitionsvereinbarung am Flughafenverfahren selbst nicht rütteln. Auch eine einmalige ”Altfallregelung” für Flüchtlinge, die von Rot-grün zusammen mit den Ländern angestrebt werden soll oder die künftige Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Verfolgungsgründe bei der Asylgewährung können an der asyl- und ausländerrechtlichen Misere nicht viel ändern - so wichtig solche Vorhaben im einzelnen auch sind.

IV. Rot-grüne Kriminalpolitik - ein Modernisierungsprojekt

Wie steht es künftig unter Rot-grün um eine ursachenorientierte Kriminalpolitik? Welche Lehren zieht die neue Bundesregierung aus der Erkenntnis, daß die permante innere Nachrüstung, der stete Abbau von Bürgerrechten, die geradezu hilflos erscheinende Einfallslosigkeit des ”more of the same” im Bereich der ”Inneren Sicherheit” längst kläglich gescheitert ist. Wie steht es nach dem Regierungswechsel um sozial- und bürgerrechtsverträgliche Lösungsansätze?

”Entschlossen gegen Kriminalität und entschlossen gegen ihre Ursachen”, so lautet die rot-grüne ”Leitlinie” im Koalitionsvertrag. Das heißt wohl im Klartext: Der bisherigen polizei- und strafrechtsdominierten Kriminalpolitik wird keine Absage erteilt. Tatsächlich wird weiterhin in hohem Maße auf Repression gesetzt - nun auch, so wenigstens die Koalitionsvereinbarung, verstärkt gegen Wirtschafts- und Umweltkriminalität sowie gegen Korruption und illegale Beschäftigung; auch neue Repressionsinstrumente werden in diesem Zusammenhang angekündigt (u.a. verbesserte Abschöpfung von Vermögensvorteilen aus Straftaten).

Wende in der Drogenpolitik?

Selbst die Drogenpolitik wird im Kern repressiv bleiben. Zwar weisen die rot-grünen Feststellungen ”Sucht ist Krankheit” und ”Hilfe statt Strafe” einen richtigen Weg: nämlich die Behandlung der Drogenproblematik tendenziell aus dem strafrechtlich-polizeilichen Bereich in den sozial-gesundheitlichen zu verlagern. Konsequenterweise wurde die grüne Drogenbeauftragte Christa Nickels nicht im Innenressort, sondern im Gesundheitsministerium angesiedelt. Ihr erster Drogen- und Suchtbericht vom 01. März 1999 hebt sich in Tonlage und Sozialkompetenz entsprechend positiv vom Polizeijargon ihres Vorgängers Eduard Lintner (CSU) ab, dessen sture Repressionspolitik im Jahr 1998 für die hohe Zahl von 1.674 Drogentoten mitverantwortlich zeichnen dürfte. Damit ist die Zahl der Todesfälle um fast 12 Prozent gestiegen.

Angesichts solcher Resultate einer gescheiterten Prohibitionspolitik sollte zu einer wirksamen Umorientierung in der Drogenpolitik mehr gehören, als nur ”Modellen” zur Einrichtung von ”Fixerstuben” eine Rechtsgrundlage zu verpassen oder ”Modellversuche” zur ärztlich kontrollierten Vergabe von Heroin an Schwerstabhängige mit wissenschaftlicher Begleitung zu legalisieren oder Rechtssicherheit für staatlich anerkannte Drogenhilfestellen zu gewährleisten. Diese geplanten Reformschritte in die richtige Richtung werden sich rasch als Halbheiten erweisen: Denn zum einen liegen längst genügend Erfahrungen - etwa aus der Schweiz oder den Niederlanden - vor, die weitere ”Modellversuche” eigentlich entbehrlich machen; zum anderen werden wenige (legalisierte) Modelle und Modellversuche weder dem Beschaffungsdruck und der Beschaffungskriminalität genügend entgegenwirken, noch werden sie in der Lage sein, dem illegalen Drogenhandel in der Bundesrepublik wenigstens ansatzweise die Geschäftsgrundlage zu entziehen. Dazu bedürfte es einer allgemeinen Liberalisierung, einer differenzierten Entkriminalisierung des gesamten Drogenbereichs, also auch der Freigabe weicher Drogen - denn auch diese Rauschmittel gehören zum Drogenmarkt, die aus der Illegalität herausgeschält werden müssen. Doch davon steht kein Wort im Koalitionsvertrag. Gleichwohl haben Andrea Fischer, die grüne Bundesgesundheitsministerin, und Otto Schily zugesagt, die Freigabe von weichen Drogen wenigstens zu ”prüfen”.

Rot-grüne Doppelstrategie

”Entschlossen gegen Kriminalität und entschlossen gegen ihre Ursachen” - bedeutet das auch, daß letztlich bruchlos auf die repressive Kriminalpolitik im Geiste Kanthers und seiner Vorgänger aufgebaut werden soll? Kein einziges noch so bürgerrechtsschädliches Repressionsinstrument, wie etwa die ”Anti-Terror”-Gesetze, der Große Lauschangriff, die ”Schleierfahndung”, wird revidiert oder wenigstens gestutzt. Andererseits soll diese (vor-) herrschende Sicherheitspolitik noch ergänzt werden um eine ursachenorientierte Kriminalpolitik, wie sie vor allem von den Grünen gefordert wird. ”Strafrecht”, so wird richtig erkannt, ”kann Ursachen von Kriminalität nicht beseitigen”; deshalb seien eine ”gute Beschäftigungs- und Sozialpolitik wie auch eine an humanen Werten orientierte Gesellschaftspolitik unabdingbar”, heißt es im Koalitionsvertrag.

Das ist schön gesagt, doch was bedeutet dieses Sowohl-als-auch, das in jenem Schlüsselsatz ”Entschlossen gegen Kriminalität und entschlossen gegen ihre Ursachen” enthalten ist? Es bedeutet die rot-grüne Kombination unterschiedlicher kriminalpolitischer Ansätze: Nicht mehr einseitig auf Repression setzen, sondern das gesamte Spektrum zwischen Repression, Prävention und Ursachenbekämpfung voll und differenziert ausschöpfen. Das bedeutet auch, daß etwa die erweiterten (geheim-)polizeilichen Eingriffsbefugnisse weit im Vorfeld von strafbaren Handlungen (”vorbeugende Verbrechensbekämpfung”) kritiklos übernommen werden - und damit auch jene schwer zu kontrollierende ”Geheim-Polizei”, die sich mittlerweile in der Bundesrepublik herausgebildet hat.

Schon seit geraumer Zeit besinnen sich reformerische Kräfte innerhalb und außerhalb der Sicherheitsapparate auf neue Rezepte und Konzeptionen, um der Endlosspirale der konservativen Einfallslosigkeit zu entgehen, deren Resultate zum Teil als kontraproduktiv, bürgerrechtsverletzend und zunehmend unbezahlbar erkannt wird. Gesucht werden neue Formen der Sicherheitswahrung, neue Akteure, neue strategische Konzepte, neue Kooperationen; angestrebt werden mehr Regionalisierung, vermehrte Polizeistreifen vor Ort, bürgernahe Polizeiarbeit und Bürgerbeteiligung. Das - so die Hoffnungen - könne die Akzeptanz bei der Bevölkerung erhöhen, ihr Sicherheitsgefühl pflegen und Geld sparen. Eine grundlegende Reform, Entbürokratisierung und Demokratisierung des Polizeiapparates ist damit jedoch nicht verbunden. Vielmehr muß diese Art von bürgerorientierter Kriminalprävention als eine Ergänzung und ”Gegenstrategie” gegen die bisherige Polizeientwicklung begriffen werden - eine Entwicklung, die von Entkommunalisierung, Zentralisierung, Spezialisierung, Vergeheimpolizeilichung und ”Aufrüstung” gekennzeichnet ist. Dieser in manchen Bundesländern bereits eingeschlagenen ”kriminalpräventiven Gegenstrategie” scheint auch die rot-grüne Bundesregierung folgen zu wollen, ohne allerdings das gewachsene Repressionspotential zu dezimieren: Rot-grüne Doppelstrategie.

Insbesondere der Passus im Koalitionsvertrag, daß sowohl die ”Sicherheits- und Ordnungspartnerschaften” zwischen Bund, Ländern und Gemeinden (von der SPD favorisiert) als auch ”kriminalpräventive Räte” (von den Grünen favorisiert) nachhaltig unterstützt werden sollen, deutet in Richtung jenes ”ganzheitlichen” kriminalpolitischen Ansatzes, der nichts ausläßt - weder bürgerrechtsverträgliche Projekte noch die prekärsten ”kriminalpräventiven Instrumente”. Alles deutet darauf hin, daß die SPD-Seite unter ”Sicherheits- und Ordnungspartnerschaften” ein ”Fortknüpfen” der umstrittenen Kantherschen ”Sicherheitsnetze” unter Einbeziehung des Bundesgrenzschutzes (BGS) versteht - ”Sicherheitsnetze”, unter denen schon heute ein bedrückendes Klima präventiver Intoleranz herrscht, ein Klima von sozialer ”Säuberung”, Ausgrenzung und Verdrängung sozialer Randgruppen aus städtischen Konsummeilen. Dazu paßt, daß sich der Koalitionsvertrag zu der vor kurzem erfolgten Kompetenzausweitung des BGS vollkommen ausschweigt, obwohl es starke verfassungsrechtliche Bedenken gibt - sowohl gegen den Ausbau des BGS zu einer zentralen Bundespolizei, als auch gegen den Einsatz von BGS-Kräften bei der Bekämpfung von Alltagskriminalität in den Städten.

Die geplante nachhaltige Unterstützung von kriminalpräventiven Räten dürfte hingegen - zur Besänftigung des grünen Partners - eher deklaratorische Bedeutung haben, denn solche Räte sind auf kommunaler sowie auf Landesebene angesiedelt. Ob vergleichbares auf Bundesebene - etwa mit dem geplanten „Deutschen Forum für Kriminalprävention“ - realisiert wird, ist bislang nicht ersichtlich. Im übrigen bleibt vollkommen offen, welche Art von Präventionsräten unterstützt werden soll, die wie Pilze aus dem Boden schießen und recht unterschiedlichen Konzeptionen folgen. Welche Kriterien sollen sie erfüllen hinsichtlich ihrer Zusammensetzung mit Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten? Hinsichtlich einer Beteiligung der Polizei, die als organisierte ”Staatsmacht” die Arbeit in den Räten leicht dominieren kann? Oder hinsichtlich der Einbeziehung handfester Geschäftsinteressen, die sich auf diese Weise mit einer zusätzlichen Legitimation für ”saubere” Innenstädte versorgen könnten?

V. Flexibilisierung des Sanktionensystems: Phantasievolle „Übelzufügung“

In die rot-grüne Kriminalpolitik ist mittlerweile - weit über die Festlegungen der Koalitionsvereinbarungen hinaus - Bewegung gekommen. Dabei beziehen sich die Reformvorschläge der zuständigen Regierungsmitglieder auf zwei Sätze im Koalitionsvertrag: Der eine proklamiert, die ”Alltagskriminalität konsequent, aber bürokratiearm (zu) bestrafen und Wiedergutmachung für die Opfer (zu) fördern”. Der andere kündigt eine ”Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems und die Schaffung zeitgemäßer Sanktionsformen (z.B. gemeinnützige Arbeit)” an. Um dies zu erreichen, soll das Sanktionensystem verändert, erweitert, flexibilisiert werden: Gegen gemeinnützige Arbeit als Alternative zu Geld- und (Ersatz-)Freiheitsstrafe dürfte in aller Regel nur wenig einzuwenden sein; die Verhängung dieser Sanktion ist heute schon möglich und könnte - vor allem zur Haftvermeidung - breitere Anwendung finden. Doch Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) reicht das nicht aus: Sie fordert, künftig geringfügigere Straftaten mit Fahrverbot als selbständiger Hauptstrafe zu ahnden - auch wenn diese Straftaten keinerlei Bezug zum Straßenverkehr oder zu einem Fahrzeug aufweisen. Diese Forderung, die man im Koalitionsvertrag vergeblich sucht, ist zwar relativ populär, aber höchst umstritten. Auch Urlaubssperren oder Reiseverbote zur Vermeidung von Geldstrafen waren schon im Gespräch... Der grüne Regierungspartner hält von solchen Flexibilisierungen nicht viel: Er hält (bislang) daran fest, daß ein Fahrverbot nur in solchen Fällen verhängt werden soll, in denen es sich um Straftaten mit einem irgendwie gearteten Bezug zum Straßenverkehr bzw. zu Kraftfahrzeugen handelt.

Doch Justizministerin und Innenminister gingen in ihren gemeinsamen Überlegungen noch einen Schritt weiter: Zur Ahndung von Bagatell- und Massendelikten, wie Ladendiebstahl, Schwarzfahren oder einfache Sachbeschädigung, soll nach ihrer Auffassung künftig anstelle der Justiz die Polizei eigenständig Strafgelder verhängen dürfen. Es soll sich um eine echte Kriminalstrafe handeln, die auch justitiell überprüft werden kann. Diese Reform, so die Intention, soll die Justiz entlasten und das Strafsystem entbürokratisieren. Hiergegen gibt es erhebliche Bedenken: Denn mit Polizisten als ”Ersatzrichter” und Strafvollstrecker in Personalunion würde die faktische ”Allzuständigkeit” der Polizei noch weiter vorangetrieben - ebenso wie die bereits weit fortgeschrittene Verpolizeilichung der Strafprozeßordnung. Die Entlastung der Justiz würde mit einer Überforderung der ohnehin überlasteten Polizei teuer erkauft. Darüber hinaus würde eine solche Regelung die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative in verfassungswidriger Weise durchbrechen. Wenn man schon Bagatelltaten ”bürokratiearm” ahnden will, wie es im Koalitionsvertrag steht, dann soll man sich doch gleich dazu durchringen, solche Massendelikte nicht nur zum Schein zu ”entkriminalisieren”, sondern sie auch tatsächlich als Ordnungswidrigkeiten zu behandeln.

VI. Modernisierung und Effektivierung des etablierten Sicherheitsstaates

Die Koalitionsvereinbarung scheint derartigen Phantasien, wie sie von Schily & Co. seither produziert werden, offenbar keine engen Schranken zu setzen - zuletzt kam der Vorschlag, Freiheitsstrafen in bestimmten Fällen nicht mehr im (ohnehin überfüllten) Knast, sondern per Hausarrest mit elektronischen Fußfesseln zu vollstrecken - und damit praktisch zu privatisieren bzw. dem sozialen Umfeld aufzubürden. Hier rächt sich, daß den rot-grünen Koalitionären in Sachen Menschen- und Bürgerrechte rundweg kein Durchbruch gelungen ist - von wenigen Ausnahmen abgesehen. Zu denen gehört jedoch nicht die Kriminalpolitik, mal abgesehen vom ”Schutz der Schwachen durch Recht”, der verbessert werden soll (Opfer-Entschädigung, Täter-Opfer-Ausgleich, Antidiskriminierungsgesetz).

Das festzustellende Manko ist weder mit solchen Aktivposten noch mit der überfälligen Modernisierung des Staatsbürgerschaftsrechts aufzuwiegen, auch wenn der permanente Hinweis auf dieses ”revolutionäre” Reformprojekt - das inzwischen schwer „gerupft“ worden ist - offenbar genau dies bezwecken sollte. Diese überfällige Reform ist teuer erkauft mit dem Verzicht auf die Wiederinkraftsetzung des Asylgrundrechts, auf ein humanes Asyl- und Ausländerrecht; sie ist teuer erkauft mit dem Verzicht auf eine demokratische Polizeireform, auf eine liberalere Kriminalpolitik, auf eine Reduzierung und Entschleierung der Geheimdienste - letztlich mit dem Verzicht auf ein wirkliches Umsteuern in der gesamten Politik der ”Inneren Sicherheit”.

Vieles deutet also schon in den ersten Regierungsmonaten darauf hin, daß die rot-grüne Koalition ein großes Projekt der Modernisierung und Effektivierung des etablierten Sicherheitsstaates betreibt. Projektziel: die Verschlankung, Entschlackung, Beschleunigung und Flexibilisierung seiner Strukturen und Arbeitsweisen (u.a. mit der geplanten Verwaltungs- und Justizreform) – statt eines fälligen Ausstiegs aus dieser Art von Sicherheitsstaat, wie er in den vergangenen Jahrzehnten zu Lasten der Bürgerrechte und rechtsstaatlicher Prinzipien ausgebaut worden ist. Es scheint wiederum der alten Sozialdemokratie - ähnlich wie schon in den sozialliberalen 70er Jahren – die Rolle zuzufallen, den Staat nach jahrelangem Reformstau, nach Krisen und Agonie unter rechtsliberaler Regentschaft, einem Modernisierungsprozeß zu unterziehen - diesmal mit den Grünen als Juniorpartner. Eine solche Modernisierung, mit all ihren prekären Begleiterscheinungen und Verwerfungen, ist traditionellerweise nicht Sache der Konservativen in diesem Lande. Ihnen würde vermutlich die außerparlamentarische Opposition auch wesentlich heftiger entgegenschlagen, als einer - vermeintlich oder tatsächlich - „fortschrittlichen“ Regierung unter Führung der Sozialdemokratie. Und dieses Mal bringen die Bündnisgrünen noch ein zusätzliches Integrations- und Befriedungspotential in dieses Modernisierungprojekt ein - wenn sich nicht ein Großteil der grünen Mitglieder und WählerInnen im Laufe des rasanten Anpassungsprozesses ihrer Partei mit Grausen abwendet. Die Bündnisgrünen könnten zu den künftigen Modernisierungsverlierern gehören, wenn es ihnen nicht gelingt, diesen Modernisierungsprozeß spürbar entlang bürgerrechtlicher (und ökologischer) Leitlinien mitzuprägen.

Trotz bislang recht unerfreulicher Aussichten für den Politikbereich Bürgerrechte und ”Innere Sicherheit” wäre es jedoch falsch, den rot-grünen Koalitionsvertrag und die hierauf basierende Politik vorschnell zu verwerfen. Sie haben es - auch wegen der anderen Politikfelder - verdient, in all ihren Facetten einer nüchternen, differenzierten und kritischen Analyse und Beurteilung unterzogen zu werden. Denn dieser Regierungswechsel trägt für viele immer noch den Hoffnungsschimmer in sich, daß den in Jahren und Jahrzehnten systematisch malträtierten Grund- und Bürgerrechten in diesem Land wieder die Geltung verschafft werde, die ihnen nach dem Anspruch einer freiheitlichen, demokratisch verfaßten Gesellschaft und eines liberalen, demokratischen Rechtsstaates zukommt. „Der Erfolg des rot-grünen Projektes wird nicht zuletzt entscheidend davon abhängen, ob diese Gesellschaft und dieser Staat im Verlaufe der anstehenden Regierungsperiode ein Stück menschlicher, demokratischer und bürgerrechtsverträglicher geworden sein werden“, schrieben die acht Bürgerrechtsorganisationen in ihrem Memorandum vom Oktober 1998. Wird die rot-grüne Innenpolitik diesem Anspruch wenigstens in Ansätzen gerecht werden? Die Legislaturperiode hat erst begonnen.

Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater bündnisgrüner Fraktionen. Verfasser des von acht Bürgerrechtsorganisationen herausgegebenen Memorandums in Sachen Menschen- und Bürgerrechte (”Umsteuern in der Politik der ‘Inneren Sicherheit’, ”Frankfurter Rundschau” vom 14.10.98). Autor zahlreicher Bücher zu Themen der ”Inneren Sicherheit”: u.a. „Mythos Sicherheit“ (Nomos 1995); „Polizei im Zwielicht“ (Campus 1996); neueste Veröffentlichung: ”Erste Rechts-Hilfe - Rechts- und Verhaltens­tips im Umgang mit Polizei, Justiz und Geheimdiensten, Verlag Die Werkstatt, Göttingen 1999.

 

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