Rolf Gössner

Fanal ohne Wirkung?

Die Verzweiflungstaten vieler Flüchtlinge
müssen endlich asylpolitische Konsequenzen haben

 

Anlässlich des 20. Todestages von Cemal Altun am 30. August 2003 fand am Mahnmal in der Berliner Hardenbergstraße eine Gedenkveranstaltung der Internationalen Liga für Menschenrechte und des Flüchtlingsrats Berlin statt. Im folgenden dokumentieren wir die leicht überarbeitete Rede des Präsidenten der Internationalen Liga für Menschenrechte, Dr. Rolf Gössner, der in Bremen als Rechtsanwalt und Publizist arbeitet. Sein neuestes Buch „Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienste des Staates“ erscheint Mitte September im Knaur-Taschenbuchverlag, München.

 

Der Name Cemal Altun hat sich ins kollektive Gedächtnis der kritischen Öffentlichkeit eingebrannt. Seine Verzweiflungstat hat die Bundesrepublik erschüttert. Er war der erste politische Flüchtling, der sich das Leben nahm, weil er die Auslieferung an einen Folterstaat befürchten musste. Am 30. August vor zwanzig Jahren sprang der damals 23jährige Asylbewerber aus einem Fenster im 6. Stock des Verwaltungsgerichts in Berlin, wo gerade über seine Anerkennung als Asylberechtigter verhandelt wurde. Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hatte Beschwerde gegen seine bereits erfolgte Anerkennung eingelegt.

Cemal Altun war Angehöriger der demokratischen Opposition in der Türkei – ein Land, das er 1981 hatte verlassen müssen, weil er von den Schergen der damaligen Militärjunta verfolgt worden war. Er floh in die Bundesrepublik Deutschland, um sich in Sicherheit zu bringen. Die damalige CDU/FDP-Bundesregierung verweigerte ihm den Schutz, wollte ihn rasch loswerden und kooperierte zu diesem Zweck mit seinen Häschern. Altun floh auf den Boden der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ und landete in einer vermeintlichen Freiheit, die ihn rasch hinter Gitter brachte. Seine letzte Flucht endete tödlich. Sein Sturz in die Tiefe war kein Freitod – denn er sah keinen anderen Ausweg aus seiner bedrückenden Situation, in der er sich während seiner 13monatigen Auslieferungshaft befand. Er stürzte sich in den Tod aus Verzweiflung, aus Angst vor Abschiebung und drohender Folter in der Türkei. Und diese Verzweiflung, diese Angst waren fleißig geschürt worden, geschürt von verantwortlichen Regierungspolitikern, wie dem damaligen CSU-Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann und dem FDP-Justizminister Hans A. Engelhard. Gnadenlos beharrten sie auf Altuns Auslieferung an die Türkei – obwohl dieser im Juni 1983 vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge als Asylberechtigter anerkannt worden war. Schon „im Interesse der Fortführung einer nach wie vor guten Zusammenarbeit mit der Türkei auf polizeilichem Gebiet“ müsse Altun „unverzüglich“ ausgeliefert werden, so schrieb Zimmermann am 21.7.1983 an den Justizminister, der sich ebenfalls für den sofortigen Vollzug ausgesprochen hatte. Das gebiete schon der „Gleichbehandlungsgrundsatz“, so der Minister, schließlich habe die Bundesregierung seit der Machtübernahme durch das türkische Militär bereits in 28 Fällen die Auslieferung an die Türkei vollzogen. Warum sollte es Altun also anders ergehen?

Die Internationale Liga für Menschenrechte hatte angesichts dieser Gefahr schon frühzeitig auf das Schicksal Cemal Altuns aufmerksam gemacht. Zusammen mit anderen politischen Kräften im In- und Ausland, zusammen auch mit Altuns Anwalt Wolfgang Wieland hat sie mit Beschwerden, mit Eingaben an die verantwortlichen Regierungen sowie mit Demonstrationen vor dem Abschiebeknast Kemal Altuns Freilassung gefordert und gegen die drohende Auslieferung protestiert. Zwar konnte die Auslieferung noch verhindert werden; doch für Cemal Altun änderte sich nichts an der menschenrechtswidrigen Lage in Auslieferungshaft, nichts an der manifesten Auslieferungsdrohung, nichts an seiner Angst und Verzweiflung. Sein Todessturz markierte nicht nur das grausame Ende eines mehr als einjährigen Dramas, sondern gleichzeitig auch den Schlussstrich unter alle Solidaritätsbemühungen um seine Freiheit und sein Leben. So stark diese Bemühungen auch waren, sie scheiterten letztlich an einer bürokratischen, einer gnadenlosen Realpolitik. Folgerichtig machte die Liga die Bundesregierung und die zuständigen Berliner Behörden mitverantwortlich für Altuns Tod.

Konsequenterweise setzte sich die Liga dann dafür ein, dass Cemal Altun und sein Schicksal nicht vergessen werden. Besonders die frühere Liga-Präsidentin, Alisa Fuss, machte sich jahrelang für ein Mahnmal stark, das schließlich mit Unterstützung des Bezirksamts Charlottenburg, der SPD-Bezirksbürgermeisterin Monika Wissel und einer Vielzahl von Spendern realisiert werden konnte. Seit Juni 1996 erinnert dieses Denkmal aus Granitstein an die Tragödie. Gestaltet hat es der Künstler Akbar Behkalam. Seine Skulptur zeigt einen kopfüber herabstürzenden Menschen mit ausgestreckten Armen – ein Symbol für alle Asylsuchenden, die hierzulande Schaden an Leib und Leben befürchten oder erleiden müssen.

Cemal Altuns Tod hat zweifelsohne ein Fanal gesetzt – doch hat dieses Fanal auch zu einem Umdenken in der Asylpolitik geführt oder gar eine Humanisierung bewirkt? Nein – so lautet die klare und bedrückende Antwort. Auch die Schicksale vieler anderer Migranten blieben folgenlos. Allein seit 1993 haben sich weit über hundert Menschen aus Angst vor drohender Abschiebung getötet oder sind bei dem Versuch gestorben, sich der Abschiebung zu entziehen. Jahr für Jahr verlieren Menschen an den Grenzen, in Abschiebehaft oder bei der gewaltsamen Abschiebung ihr Leben.

Die „Maschen im Grenzzaun“ um Europa und die Bundesrepublik sind mittlerweile enger geflochten worden. Die Abschiebegründe wurden erweitert. Die Situation im Abschiebegewahrsam hat sich nicht verbessert. Migranten gehören schon lange zu der am intensivsten überwachten Bevölkerungsgruppe. Seit 2002 werden sie mit den neuen „Anti-Terror“-Gesetzen unter Generalverdacht gestellt und einem noch rigideren Überwachungs- und Abschiebesystem unterworfen. Migranten sind die eigentlichen Verlierer des staatlichen „Anti-Terror-Kampfes“. Die neuen Sicherheitsregelungen schaffen allerdings kaum mehr Sicherheit, sondern sind dazu geeignet, Migranten zu stigmatisieren, ihren Aufenthalt in Deutschland noch weiter zu erschweren und fremdenfeindliche Ressentiments zu schüren. Ohne den geringsten Nachweis, dass von ihnen etwa mehr Terror ausgehe als von Deutschen, werden sie zu einem gesteigerten Sicherheitsrisiko erklärt und einer entwürdigenden Sonderbehandlung unterzogen, die für viele existentielle Folgen haben kann – bis hin zu politischer Verfolgung, Folter und Mord durch die Herkunftsländer, aus denen sie zuvor geflohen waren.

Dieses Mahnmal ist auch den Opfern dieser Politik gewidmet. Es wurde errichtet nahe dem ehemaligen Verwaltungsgericht an der Hardenbergstraße, das über das Schicksal von Asylbewerbern zu entscheiden hatte und das Cemal Altun posthum als Asylberechtigten anerkannte. Solche Mahnmale müssten längst an ganz anderen Orten angebracht werden, dort nämlich, wo die Leitlinien der Ausländer- und Asylpolitik entschieden wurden und werden: so etwa in Bonn am ehemaligen Bundestag, wo 1993, also vor zehn Jahren, von einer großen Koalition aus CDU-FDP und SPD die Demontage des Asylgrundrechts beschlossen wurde; an Innenministerien, Ausländerämtern und Abschiebeknästen, wo die restriktive Ausländer- und Asylpolitik umgesetzt, wo nicht eben selten die Menschenwürde der Betroffenen eklatant verletzt wird.

Lassen Sie uns zusammen mit der Internationalen Liga für Menschenrechte, zusammen mit „Pro Asyl“ und dem Flüchtlingsrat Berlin an die Öffentlichkeit und die politischen Entscheidungsträger appellieren: Wir müssen den staatlichen Umgang mit traumatisierten und gefährdeten Menschen gründlich überdenken und verändern. Abschiebungen in Folterstaaten und Kriegsgebiete darf es nicht länger geben. Übermäßig lange Abschiebehaft, unzumutbare Haftbedingungen, die Inhaftierung von besonders schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen und die gewaltsame Trennung von Familien sind ein Skandal; die praktizierte Abschiebehaft ist prinzipiell ein Verstoß gegen Menschenrechte und gehört abgeschafft. Das Asylrecht ist ein Menschenrecht – wir müssen es immer wieder von neuem erkämpfen.